Aus unserer locker fortgesetzten Reihe: Ikonen des Web 1.0:

UbuWeb Film Header

Ist eine Zeit ohne YouTube heute noch vorstellbar? Und damit meine ich nicht eine Zeitspanne, in der man mal zufällig woanders hinsurft als zu Telefonaufnahmen, die “i was bored lol” heißen, sondern eine ganze Epoche — eine Zeit vor YouTube?

Vorstellbar vielleicht nicht, erinnerlich schon; YouTube ist keine sechs Jahre alt. Noch anno 2005 war es ein Ereignis fürs ganze Internet, wenn mal irgendwo ein Musikvideo zugänglich war, die liefen da noch auf MTV, im Fernsehen, wenn sich jemand erinnert . Dabei besteht das nicht genug zu lobende UbuWeb seit einer Zeit, in der außer ein paar ausgewählten, sehr wichtigen Angestellten der NASA kaum jemand wusste, was denn ein Internet sein soll.

In UbuWeb heißen die Filme höchstens aus dokumentarischen Erwägungen “I was bored lol”; Aufnahmekriterium ist seit jeher: Es muss entweder avantgardistische Kunst sein oder auf einer theoretischen Ebene von ihr handeln — egal ob es ein Film mit oder ohne Ton ist, eine Tonaufnahme mit oder ohne Bild oder ein geschriebener Text. Oft genug verschwimmt die Unterscheidung oder wird gar nicht erst getroffen. Wozu auch, ist ja Avantgarde.

Eine bestimmte — oder besser: ziemlich unbestimmte Klientel konnte sich dort schon immer (in Internetkategorien ist seit 1996 sehr wohl “schon immer”) nächtelang herumtreiben, um festzustellen: Herrschaftzeiten, in diesem Internetdings gibt’s ja wirklich alles. Ein Eindruck, den man bis heute in jeder langen Nacht mit dem UbuWeb aufs neue gewinnt. Allein der eine ungekürzte Orson-Welles-Film, den es bis heute nicht auf DVD gibt, dauert abendfüllend, da fühlt sich eine durchglotzte Nacht an wie einmal Ein- und Ausatmen.

Wie sie das machen, da beim UbuWeb? Sehr einfach: Sie machen es. Nehmen, was da ist und was reinkommt, digital einrichten, verlinken, fertig. Nichts anderes, als was YouTube auch macht, abzüglich das heil- und endlose Kindergartengezänk um das Recht, vorhandenes legales und einwandfrei zugängliches Kulturgut anzuschauen.

Die interessantere Frage wäre demnach: Wie sie das machen, da beim UbuWeb: dass sie unbehelligt Fime veröffentlichen, ohne jemals dafür belangt zu werden? Braucht doch, wer regelmäßig Fime auf YouTube hochladen will, die etwas anderes als bored sein und auch so aussehen sollen, eine Kriegskasse, die einem seiner Monatsgehälter entspricht.

Der UbuWeb-Betreiber, der berufsmäßige Lyriker Kenneth Goldsmith, zahlt rund 50 Dollar im Jahr: für die Domain-Miete. Nebenkosten: sein privater Internetanschluss. UbuWeb, das muss man sich mal geben, war von seinem Anfang an eine One-Man-Show, ist immer die unangefochtene Autorität in seiner Long-Tail-Nische geblieben, kostet kein Geld, trägt keins ein und wird 2014 volljährig. Dafür muss Goldsmith sich auch keine Werbeeinnahmen antun, denn was sollte er gegen den Aufwand der Kundenakquise und -pflege wohl finanzieren wollen — aller zehn Jahre eine neue Maus für drei fünfundneunzig? So viel zahlt meine Oma auch, und die kauft ihre Kartoffeln einzeln, muss vor über zwanzig Jahren wegen Unergiebigkeit aus den Karteien sämtlicher Adressenhändler rausgeflogen sein und glaubt, Amazon ist ein Fluss in Afrika.

Wer so fragt, fährt am besten, indem er nachschaut, wer daran verdient. Komplizierter wird es nie. Und an UbuWeb verdient exakt: niemand. Deswegen lässt man Herrn Goldsmith machen. Jedenfalls erklärt er sich das in Interviews so, warum sollte jemand noch misstrauischer nachfragen. Avantgarde ist froh, wenn sich überhaupt jemand für sie interessiert. Sie ist da, um wahrgenommen zu werden, bella gerant alii.

Zum UbuWeb fällt mir nur ein einziges vergleichbares Online-Projekt ein; und wenn Sie mir versprechen, nicht gar zu lange sarkastisch zu grinsen, verrate ich Ihnen, dass ich da an YouPorn denke. In dem soziologischen Interesse, das man dieser von Anfang an polarisierenden Plattform entgegenbringen kann, ist sie durchaus avantgardistisch: Da haben Scharen von Zielgruppen, um nicht zu sagen: erwachsenen, geschäftsfähigen, wahlberechtigten Menschen in großem, ja weltumspannendem Stil angefangen, sich selbst und gegenseitig bei ihren intimsten Beschäftigungen zu filmen und vor aller Welt sichtbar zu machen, und zwar in einem Rahmen, den ein nicht steuerbares, weil kaum wahrnehmbares Publikum benutzen kann oder nicht, wofür es will, und von dem vice versa niemand je erfahren wird, nach einem Gusto, das es kaum selbst willentlich steuert. Das ist innerhalb weniger Monate geschehen, aus dem alleinigen Grund, dass es technisch kinderleicht wurde — was man nicht gutheißen, aber als Tatsache hinnehmen muss.

Die Vorteile von UbuWeb gegenüber YouPorn sind: Niemand will sich dort an seiner Exfreundin rächen, niemand will dort “Angebote” hineinjubeln, die Bezahlung für undurchsichtige Gegenleistungen begehren, und jugendgefährdende Inhalte sind mir auch noch nicht aufgefallen — außer dem fiesen “chien andalou” von Buñuel und Dalí, das ist der mit dem Auge, igitt. (Übrigens ist die Grausigkeit “Un chien andalou” sogar auf YouTube erlaubt, was ja schon einiges heißen will, und Pornos mit Minderjährigen sind auf YouPorn verboten, wie immer und überall woanders auch, und beides ist gut so.)

Und vor allem: UbuWeb bleibt für alle Beteiligten wirtschaftlich neutral, weil man es so sein lässt. Der geistige Gewinn entsteht genauso: indem man ihn entstehen lässt. So geht’s also auch.

Wenn die Nacht mal wieder lang und die Internetverbindung flott ist, empfehle ich seit über einem biblischen Jahrzehnt UbuWeb. So toll kann ein Porno gar nicht sein.

Bild: UbuWeb Film & Video aus Un chien andalou, 1929.