Einmal muss es ja raus: Ich bin ein Mann. Die Zeichen dafür sind nicht übertrieben augenfällig, aber eindeutig: Ich kann im Stehen pinkeln.

Natürlich darf ich das nie. In meiner Jugend, zur Zeit meiner unkontrollierbarsten Virilität, hielt auch ich mich deshalb oft in Kneipen auf. Da haben sie Pinkelbecken, vor die man sich hinstellen muss. Mit so einer Verzweiflung, die nichts anderes als Mitleid verdient, habe ich um das armselige Privileg gekämpft, mit dem ich alle anderen bezahle. Männer.

Nun ist das Hindernis aller zwischengeschlechtlichen Beziehungen: Ein einziger Mann auf der Welt ist George Clooney, rund vier Milliarden Männer auf der Welt sind jemand anders.

Von den letzteren sind einige Millionen unter Drogeneinfluss stehende Schmierlappen, von diesen wiederum halten sich zu jedem Zeitpunkt mehrere Dutzend auf der ganzen Welt in Hotelbars auf.

Nun ist gerade die Hotelbar ein Ort der Kommunikation, der nimmer versiegenden Quelle von Missverständnissen – besonders im Zusammenhang mit Drogeneinfluss. Dabei könnte alles so einfach sein.

Gegen meine Person laufen zurzeit keine Ermittlungen wegen sexueller Belästigung, weil ich mich unter all meinen Kneipenbesuchen nur ein einziges Mal im Leben in einer Hotelbar aufgehalten habe. Das geschah, um einen Manhattan zu mir zu nehmen, weil das Zeug in einem Lied von Tom Waits vorkommt. Psychogene Mischungen an einer Hotelbar einzunehmen hielt ich damals für cool und somit erstrebenswert, ebenso wie die moralisch irreführenden Tonaufnahmen von Tom Waits. Ich war jung und verbrauchte das Geld.

Heute schäme ich mich, damals festgestellt zu haben, dass die Barkeeperin hübsch war – nicht ohne Wohlwollen, weswegen ich ihr meiner verschwommenen Erinnerung nach gönnerhaft fünfzig Pfennig Trinkgeld unterschob. Es kann keine Entschuldigung sein, dass die Drogennutzer, die gleichzeitig mit mir anwesend waren, es noch viel übler trieben: Manche von ihnen führten Gespräche über Geschlechtergrenzen hinweg, teilweise mit Augenkontakt.

Mein Ausstieg aus der Szene gelang, weil der Manhattan 6,50 kostete (die Älteren entsinnen sich: Deutsche Mark). Auch ich war ein Schmierlappen unter Drogeneinfluss, ich hatte einfach nur Glück. Meiner “eigenen” Frau (ein beaduerlicher Ausdruck, der keinen Besitzanspruch begründen soll) begegne ich seitdem stets korrekt gekleidet mit Höflichkeit und Respekt, auch wenn sie über meine häufigen schwächeren Momente Anderslautendes zu beklagen weiß.

Äußerlichkeiten von Menschen haben nicht Gegenstand der Erörterung zu sein, niemand braucht ernsthaft eine andere Website als Wikipedia, und für Desktop-Hintergründe finden sich leicht sehr ansprechende Bilder von Mineralien. Sobald das eigene Verhalten ins Justiziable lappt (Benennung von Körperteilen, körperliche Berührungen außerhalb von Sofortmaßnahmen am Unfallort, Lächeln) oder die Begegnung mit einer anderen als der eigenen Frau stattfindet, gibt es immer noch eine Lösung: rennen.

Bisher konnte ich mich noch nicht für ein Mineral, das meinen hohen – oder sagen wir treffender: niederträchtigen – Ansprüchen genügt, als Desktop-Hintergrund entscheiden, denn ich bin ein Mann, das Abfallprodukt der Evolution, und deshalb immer und überall auf die Nachsicht meiner Umwelt angewiesen. An dieser Stelle gestehe ich, dass ich auf meinen Desktop eine Moospflanze, jawohl: benutze.

Meine Ausrede dafür war immer, dass mein Gesicht (Bügeleisennase, Brille) jederzeit einsehbar und meine Monatseinkünfte (Germanist) zumindest einschätzbar sind – das Machtgefälle zwischen einem Moos und mir sollte also verschwindend kurz und flach sein.

Aus meinem von Geschlechtstrieb und Machtgeilheit vernebelten Bewusstsein verdrängt habe ich, dass es ein Bild von Polytrichastrum formosum ist – einem Frauenhaarmoos. Und wem genau will ich weismachen, das wäre doch gar nicht “so” gemeint und sollte nur meine besondere Wertschätzung für Moose ausdrücken?

Schlimmer noch: Ich habe diesem sexuellen Wesen mit einer verletzlichen Seele (und Fruchtwechsel!) niemals ein Mitspracherecht an seiner Objektifizierung eingeräumt. Wenn ich das einer redebegabten Frau antun würde, könnte ich mal einen richtigen Aufschrei erleben.

Es ist ein weiter Weg bis zu George Clooney. Mein ehrgeizigstes Ziel ist es, dereinst einem Feldspat ebenbürtig zu werden: Feldspat hält die Welt zusammen und ansonsten den Mund.

Soundtrack: Tom Waits feat. Bette Midler: I Never Talk to Strangers, aus: Foreign Affairs, 1977.