Vor Zeiten musste ich ein Wochenende lang auf der Grünwalder Burg wohnen – was bedeutet: einmal übernachten –, um mit der Communitas Monacensis in stauferzeitlichen Gewandungen Kalligraphie in karolingischer Minuskel und gotischer Fraktur, Brettchenweben und nach dem Buch von guter spîse (ca. 1350) nahezu neongrüne, aber vegetarische Ravioli und Lungenmus am Spieß zu bereiten. Das nannten wir Burgbelebung.
Kuratiert wurde die Veranstaltung samt der ganzen Burg Grünwald außerhalb ihrer Belebungen von einem Professor der Archäologie, der von seinem Skriptorium aus auf unsere Anstrengungen blickte, mit Lebensmitteln vom unweit residierenden Grünwalder Edeka ein authentisches Nachtmahl herzustellen. Ein so liebenswürdiger wie breit und tief gebildeter Mann, der dem Nachtmahl nicht nur deshalb eine Flasche Roten stiftete, um von seiner termingebundenen Abhandlung abgelenkt zu sein, sondern mit seinen belebenden Mittelalterdarstellern am Lagerfeuer beisammenzusitzen, wobei ihm auffiel, dass keiner der Reenacter eines aufs Wesentliche reduzierten Hochmittelalters eine Armbanduhr trug – und das bei Nacht und flackerndem Feuerschein.
Zu den täglichen Verrichtungen des Professors gehörte, das Ewige Licht unter dem Kruzifix im Hof brennend zu erhalten. Im Keller des Wirtschaftsgebäudes, einem niedrigen, von einer Reihe Schießscharten erhellten Gewölbe, hausten Siebenschläfer.
Eher 20 als 15 Jahre nach dem Wochenende auf und unter der Burg Grünwald bin ich noch einmal wandernd vorbeigekommen. Unter dem Wohngebäude des Professors bis in den Burghof hinein wurde ein Café eingerichtet, im Wirtschaftsgebäude ein Museum, das übrigens gar nicht so schlecht sein soll; danken wir’s unbesehen dem rotweinstiftenden, zuzeiten prokrastinierenden Professor von der Archäologischen Staatssammlung.
Was aus den Siebenschläfern geworden ist, frag ich vorsichtshalber nicht so genau nach. Das Ewige Licht wurde abgeschafft. Unterm Professor hätt’s das nicht gegeben.
Buidln: Sejwergmacht am 22. September 2021, schenk i Eahna.
[…] Zuvor war seit 1867 die amtliche Bezeichnung „Irrenweg“ wegen der dort seit 1859 anliegenden Kreisirrenanstalt München (bis 1900, seit 1919 Salesianum für benachteiligte Jugendliche). Nachdem sich mehrere Bewohner erfolgreich gegen diese Bezeichnung gewandt hatten, erfolgte die Umbenennung zugunsten der „ruhmreichen Erinnerungen für die bayerische Armee, in Sonderheit für die Münchner Regimenter“.
Die Begriffe bitte ich selbstständig zu entziffern. Mit der Auflistung zieht man sich bloß komische Suchanfragen.
Die Wasserwerte sind da. Vom Labor bestellt und bitter bezahlt. Außer einigen selten auftretenden Image-Werbeplakaten der Münchner Stadtwerke für ihr wunder wie tolles Leitungswasser erzählt einem ja keiner was über das Lebensmittel, das man am meisten verwendet. Außer Chips natürlich, aber der Mineralgehalt müsste ähnlich sein.
Wer Münchner Leitungswasser, von Braumeistern der Stadtwerke liebevoll frotzelnd “M-Wasser” genannt, bisher für eine nachlässig gesättigte Kalklösung hielt, kann aufatmen und weitersaufen: Der Kalkgehalt ist keinesfalls höher als in den Schalen von Bio-Eiern. Kupferwerte hab ich bisher für etwas gehalten, das man nach dem Einkaufen in eine alte Asbach-Uralt-Flasche klimpern lässt, praktisch zu vernachlässigen sind Nitrat und Nitrit. Ich hab keine Ahnung, was das ist, aber ich verwechsle ja auch Manet und Monet. Unter dem psychogenen Grenzwert liegen auch Bor und noch irgendwas.
Sorgen muss man sich machen um Nickel und Blei. Dass Blei nicht in Leuten vorkommen sollte, lernt man ja schon als kleiner Bub, wenn man durchs Wohnzimmerschlüsselloch den Spätwestern mitguckt. Und vor allem Leute wie ich, sagt Vroni, die mit Müdigkeit, körperlicher Schwäche, Depression und noch irgendwas zu kämpfen haben…
“Mit Vergesslichkeit, Wolf”, hilft Vroni aus, “mit Vergesslichkeit!”
Sag ich doch, aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich wollte.
Vor 21 Uhr an der Bushaltestelle Zigaretten rauchen müsste bis jetzt noch erlaubt sein. Auf einmal wächst eine Frau im plastikblauen Michelin-Männchen-Mantel aus dem verschneiten Gehsteig, wasserdichte Plastiktüte am Handgelenk, den Lippenstift ist sie nicht mehr gewohnt. “Gott zum Gruß”, sagt sie, “ich bin heut 40 geworden.” Gut gehalten. “Glückwunsch”, sag ich. “Keine Ursache”, sagt sie, “und sie haben mir eine Flasche Wein geschenkt.” Sie wedelt mir mit ihrer Plastiktüte unter dem Gesicht herum, gratuliert hab ich ihr schon.
“Wenn ich nicht trocken wär”, redet sie weiter, “würd ich den ganzen Tag Chardonnay saufen.”
Ich nicke weise. “Wer nicht, wer nicht”, sag ich. “Können Sie haben”, sagt sie, drückt mir die Plastiktüte vor die Brust, damit ich sie nehmen muss, und ist hinter einer Schicht Schneeflocken in Richtung einer Kneipe, aus der vorhin noch Licht auf die schlampig geräumten Schneefladen fiel, verschwunden. Stellenryck, Südafrika. Hab ich letztes Jahr mal beim Aldi im Angebot gesehen.
Wenn ich trocken wär, würd ich den ganzen Tag keinen Wein saufen.
Lockdown findet ja vor allem im Kopf statt. Auf der Straße sieht man jedenfalls nix davon.
Die Straße, die ich vom Fenster aus im Blick hab, wird dieser Tage im allerengsten Sinne des Wortes abgeschlossen: mit der letzten Asphaltschicht auf den schmuck schwarzglänzenden Teer. Das war per Flyer vom Oberbürgermeister persönlich für 4. Dezember versprochen, ist also gar nicht mal so schlimm verspätet. Das Foto nebenan hat also ab sofort einen überaus dokumentarischen Seltenheitswert.
Und ab sofort kann man wieder mit dem Auto durch die Reifenstuelstraße. Muss man aber nicht, und vor allem: Wer kann sich heute noch ein Auto leisten? Das Gefühl wohligen Nichts-Müssens muss mit dem Lockdown zu tun haben, die dauerpanische Existenzangst macht widerwillig jener gallig heiteren Auffassung Platz, dass einen das Leben doch langsam kreuzweise kann: Alles den Bach runter? — Ja, und jetzt? Soll ich weinen oder lieber kotzen? Sucht euch was aus, vielleicht mach ich’s, falls ich heuer oder nächstes Jahr mal dazu komm.
Gestern hab ich die fast fertig asphaltierte Reifenstuelstraße dazu benutzt, eine Weihnachtsente aufzutreiben: über eine Stunde zu Fuß zum Händler für Kronen-Enten unseres Vertrauens — ohne öffentliche Verkehrsmittel, damit einem keiner was nachsagen kann. Vor allem ohne Auto lernt man dabei, dass Ober- und Untergiesing richtig was gleich-, aber grundverschieden ausschauen, und wird unterwegs sogar noch unabhängig voneinander von zwei local Beauties angelacht, weil man so ein rüstiger Wandersbursch ist; im Bus passiert einem das garantiert nie.
Vor allem kommt man mit dem Bus nicht über den Ostfriedhof. Auf dem lernt man, egal ob gerade eine Seuche mit oder ohne Lockdown tobt oder nicht: Schlimmer als so wird’s langfristig nicht.
Ist das Fatalismus oder Defätismus? Und braucht man wirklich ein Fremdwort dazu? Wurscht: Wie schön, dass man auch das ignorieren kann. Aber nicht muss. Geil.
Buidl: Fernkälte-Rohre, Baustelle Reifenstuelstraße, ca. November 2020, schenk i Eahna.
Nachdem ich schon anno 2015, als ich noch nicht zu faul war, nach dem Einsetzen aufgeladener Akkus das Datum an der Kamera frisch einzustellen, unter Einsatz meiner morschen Gebeine und ebensolchen Wanderschuhsohlen eine der ganz wenigen Katzendarstellungen in den Kirchen der weltumspannenden Christenheit zu dokumentieren die Gelegenheit ergriff — das Halbrelief eines weitgehend nackigen kleinen Buben, der mit einer Katze spielt, indem er ihr einen großmächtigen Zapfen Wurst anbietet, mithin ein Bild des Friedens, der Eintracht und der Wohltätigkeit, im Sockel des Taufbeckens, wenn man reinkommt links auf halbem Weg zum Hochaltar, an der lichtabgewandten Wandseite, wo es nicht heller wird, außer man fragt den Pfarrer, ob man’s besser ausleuchten darf, falls man sich auf sowas versteht, und damit das Bild aus meiner spärlichen Bilderproduktion, auf das ich möglicherweise am stolzesten von allen bin — bleibt mir nur noch die Dokumentation der Weisheit der Straße, vulgo Streetsmartness.
Das Weise an dem Graffito, wie jeder auch nur halbwegs Weise bemerken wird, ist selbstverständlich seine lakonische Stringenz und seine seit 2018 nur noch stetig angewachsene Nützlichkeit. Wobei mir einfällt: Die Einladung zu einem Schäufele im Klosterbräustüberl Schäftlarn, die ich anno 2015 ausgerufen hab, falls jemand weiß, wo sich die Katze in der Klosterkirche rumtreibt, fällt damit natürlich automatisch aus, weil ich’s jetzt nach über fünf Jahren selber verraten hab, obwohl sie den Laden “voraussichtlich” am 1. Dezember wieder aufsperren.
2020, schreiben sie dazu. Das ist ebenfalls weise, weil sie ja dann immer am 2. Dezember bloß die letzte Ziffer an der Jahreszahl ändern müssen.
Die Stammtischpartei, die alles darf, was der bayrische Bürger hinter vorgehaltener Hand auch darf: sich gegenseitig reinlegen, Suff-Fahrten, hinterkünftige Vetternwirtschaft, gieriges und scheinheiliges Gekungel um Grundstücke, samstags ab in den Beichtstuhl und am Sonntag gebadet, flauschig gefönt in die Katholische Messe gehen.
Immer wieder beruhigend, dass es auch Pflanzen gibt, die man nicht jeden Tag von vorne handpäppeln muss. Moos ist ja was Schönes. Unbegreiflich, dass es keiner im Garten will, das innenstädtische Kapuzinerkloster St. Anton duldet es wenigstens davor.
Manche Moosarten — meistens Ackermoose — setzen ihre Sporen frei, indem sie verwesen, und wenn unsereins nicht achtmal pro Woche seine Sexualität auslebt, herrscht Beziehungskrise. Das Zeug wohnt am Kloster schon ganz zurecht. Im Bild der malerischste Ausschnitt der Inschrift Pfarrei St. Anton, Eingang Thalkirchner Straße.
Die Irm Hermann (* 4. Oktober 1942; † 26. Mai 2020) hab ich noch kurz kennengelernt. Die hat mal in dem Hotel übernachtet, in dem ich an der Nachtschicht war. Da hat die sich unter Aufbietung ihres Charmes spätnachts in meine Hotelküche gequasselt, um sich unter Aufsicht irgend so einen abseitigen Gesundheitshexentee zu brauen. Die Schauspiel-Legende, mit der ich mal ein gedeihliches halbes Stündchen verbringen durfte; erkannt hab sie erst nachträglich an der immer leicht klagenden, tragfähigen Hörspielstimme, bei der man immer zusammengezuckt ist: Die kenn ich doch, die kenn ich doch?, und als ich in ihrer Reservierung nachgeschaut hab, wie die überhaupt heißt. Ein ganz bezaubernd liebenswertes, gebildetes Ömchen war das nämlich, jawoll. Drum sieht man der auch die ganzen Feelbad-Schmonzetten mit dem seligen Fassbinder nach. Aus der Ferne betrachtet war das menschlich Einnehmede an Frau Hermanns nächtlichem Auftritt der Respekt vor der Arbeit eines Hotelnachtportiers, der selbstverständlich nicht einfach Gäste in die Küche lassen darf, aus dem sie die Erlaubnis dazu mit einer Spanne ihrer zuträglichen Gesellschaft vergelten wollte.
Vor der Kneipe gönnt sich der Home Office Agent, der eigentlich noch den Zusammenbruch verwalten muss, ein Weißbier, lässt sich die Atemmaske auf die Brust baumeln, reibt sich die Augen und raucht eine.
Soundtrack: Nachdem Son of the Velvet Rat: I Will Survive, aus: Reaper, 2013 (am besten live in der Wiener Sargfabrik, 26. April 2018) nicht verfügbar ist: derselbe featuring Lucinda Williams: White Patch of Canvas, aus: Red Chamber Music, 2011:
Heut war mein Herrchen auf der Beerdigung seines guten Freundes G. Es war eine schöne bayerische Leich an den ländlichen Gestaden von München. Mit Querflöte, Orgel und einem Lied von einem Schweinsbraten mit Betonung auf 2 verschiedene Knödel. 1x Kartoffelknödel, 1x Semmelknödel. Mein Herrchen blies am Grab ‘Orphan Girl’.
Hach. Schee.
Als alter, ekelhaft unromantischer Katzer möchte ich jedoch anmerken, dass mir persönlich ein lebendiger Freund lieber wäre als eine schöne Leich mit Brodn und Mucke. Nach meinem unromantischen Dafürhalten hätte der Gutdste nicht mit jungen 51 Jahren an einer zu spät entdeckten Hämochromatose sterben müssen. Rechtzeitig entdeckte Hämochromatose ist gut behandelbar und sterben muss man an ihr eigentlich nicht.
“Für die Diagnose der Hämochromatose sind zwei Laborwerte wichtig: Der Ferritinspiegel im Serum (Ferritin ist ein Eisenspeicherprotein) ist ein Maß für die Menge des gespeicherten Körpereisens; er ist bei der Mehrzahl der symptomatischen Patienten deutlich erhöht (über 500 µg/l).“
So schwer kann es doch für einen Arzt nicht sein, nach Jahren ständig wieder auftauchender Gelenksprobleme mit langen Krankschreibungen, für den fast blutjungen Patienten doch mal an eine Differentialdiagnose zu denken und ein schönes großes fettes blühendes Blutbild anzufertigen. Erspart die schöne Leich.
Lieber G., mögen an deinem Grab die Bienen summen und der Hollunder brummen. Es lebe das Leben!
Gruß Der Kater
Ich möchte eigentlich jetzt net einen neuen traurigen Zyklus “Von Ärzten ins Grab gebracht” einführen müssen. Denn der ruhige und stille G. ist leider nicht der einzige, an den ich dabei denken muss.
Was die ansonsten kompetent wirkende Ärztin darin jedoch über den Mars und über die angeblich energiereichen Eisentypen eso-blubbert, schwächt ihre klugen Mediziner-Worte erheblich ab. G. war ein ganz ruhiger. Ein typisches Hämochromatose-Frühzeichen ist Müdigkeit und Abgeschlagenheit. Sagt sie zuvor selber.
Was die Botaniker für die Erstbeschreibung einer neuen Spezies alles brauchen. Der Entdecker der Orange (Linné 1783, wetten?) muss sich ganz schön was an taxonomischer Diagnostizierung der Ökologie und Verbreitung bestehender Populationen aufgeladen haben, als er auch noch die Blutorange, Bitterorange, Navel-Orange, Navelina, Apfelsine, Mandarine, Clementine und Satsuma durchsetzen wollte, von Grapefruit gegenüber der Satsuma ganz zu schweigen.
Und dann raschelt einem der Kassierer beim Gemüse-Cavusoglu in der Landwehrstraße mit der Tüte “Orange Herkunft Land Spanien KG 1,99” rum, zottelt eine einzelne raus und sagt zielsicher: “Diese nix eins neunundneunzig. Diese drei neunundneunzig.”
“War aber in derselben Wanne”, wende ich ein.
“Nix diese. Andere.” Wiegt die einzelne separat ab und berechnet souverän hundert Prozent Aufschlag.
Wie man nur zweifeln konnte: Die haben jetzt tatsächlich am Samstag offen. Und was man den Friseuren im Lauf der Siebziger abgewöhnen konnte: neuerdings am Montag zu.
Damit wir nur ja kein halbtagsstelliges Bibliothekarinnenmuttchen zusätzlich finanzieren müssen, versauen wir halt denen, die sich sowieso schon unter der Woche die Blümchenschürze aufreißen, das Wochenend, gell? Müssen ja eh bloß zwei da sein. Zwei pro Fililale. Und pro Woche. Hauptsache, die Welt wird mit allem, was seit Jahrzehnten von der Kund- und Belegschaft einhellig gefordert wird und sich so kostenneutral wie möglich ändern lässt, ein klitzekleines bisschen beschissener.
Ja, mach nur einen Plan: Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens, aus: Die Dreigroschenoper, 1928:
“Wolfwolfwolf”, rügt Vroni, “hättest du nicht eine noch belanglosere Überschrift gefunden?”
“Das meiste auf der Welt wäre von weniger Belang. Rechne mal nach, was das heißt, dass ein Heiligabend auf einen Montag fällt.”
“Dass Silvester dann auch auf einen Montag fällt?”
“Das ist die Konsequenz, aber ziemlich genau halb so schlimm.”
“Du bist anstrengend.”
“Und vor dem Montag, auf den de Heiligabend fällt, was ist da?”
“Sonntag?”
“Ganz recht. Und hinterher?”
“Dienstag?”
“Feiertag. Der erste. Und dann noch einer, genannt der zweite.”
“Das kommt so überraschend wie immer.”
“Aber so saudumm wie selten. Wer am Freitag nicht einkaufen war, kann erst am Donnerstag wieder. Außer er will sich von nachlässigen Haushältern niedertrampeln und von missmutigen Vekäufern mit dem Putzlumpen erschlagen lassen.”
“Oder von genervten Ehefrauen.”
“Die keine Weihnachtseinkäufe machen müssen.”
“Wir schenken uns doch eh nix.”
“Okay, dann essen wir halt auch nix.”
“Dann leb schon deine Restless Legs aus.”
“Um ein weihnachtliches Hungerödem zu vermeiden.”
“Wolfwolfwolf.”
Soundtrack: Paul Young: Love of the Common People, aus: No Parlez, 1983:
Bratpfannenwetter. Ausnahmsweise hab ich nichts Besseres zu tun, als die Jeans aufzukrempeln und meine Hobbitlatschen in den Stadtbrunnen zu baden (ich bin Künstler, für mich ist Kontemplation Arbeit). Da springt mich von rechts hinten ein Mikrophon an:
“Was halten Sie bei dieser Hitze von Sex?”
Das Mikrophon trägt eine Manschette mit dem Logo eines berüchtigten Lokalradiosenders. Die dahinter kauernde unbezahlte Praktikantin ist blond, aber zum Ausgleich mit Brille, die “was mit Medien” ausdrücken soll. Knapp unterm Hintern handabgeschnittene Jeans, das Glitzer-Top gibt die Aussicht auf gut entwickelte Brüste ohne BH frei, ihre güldenen Riemchensandalen folgen der modischen Unsitte, eine zu dünne Sohle mit Zehenstengel und Fersenriemen zu verankern, damit das Opfer möglichst schwer rein- und rauskommt. Grellrosa lackierte Zehennägel, aber in ihrem Alter ist eine gewisse stilistische Unbeholfenheit entschuldbar. Kurz: Die vorgesetzten Schweine vom Radio haben ihre Jüngste von Oberföhring in die Innenstadt gejagt, “ein paar O-Töne einsammeln”.
“Wie war das?” Die Frage ist sie gewohnt, ich bin ja nicht ihr erster O-Ton.
“Was halten Sie bei dieser Hitze von Sex?” wippt das Mikrophon.
“Pass mal auf”, sag ich, “siehst du das Café da drüben?”
Ihr Blick folgt meinem ausgestreckten Arm: “Jaaaaa …?”
“Die haben ein Behindertenklo. Richtig groß, damit man auch mit dem Rollstuhl reinkann.”
How to confuse a unbezahlte Praktikantin. Eigentlich kann das Hascherl ja nix dafür, aber jetzt hab ich meinen Lauf:
“Das ist vom Gastraum aus nicht einsehbar, es kriegt also keiner mit, wenn du dich im Eingang irrst. Du gehst links an der Theke vorbei ums Eck, das Behindertenklo ist die erste Tür. Sperr besser zu. Ich zähl hier bis hundertfünfzig und komm dann nach. Mein Klopfzeichen ist: einmal kurz, zweimal lang. Das ist das Morsezeichen für W, weil ich Wolf heiß, aber das weißt du ja als alte Funktechnikerin.”
“Hä?”
“Inzwischen hast du Zeit, dich aus deiner kaum vorhandenen Kluft zu schälen und im Schritt frisch zu machen. Wenn ich da bin, können wir meine Klamotten auf den Fliesen unterlegen, damit du dir nicht sonstwas an die Eierstöcke zuziehst. Keine Angst, meine eigenen Gummis hab ich immer dabei, weil’s in den Automaten nie die XXL gibt.”
“Hören Sie …”
“Kein perverser Schweinkram, keine Rollen- und Fesselspiele, keine Lippenstiftringe um die Eichel oder so, wenn ich bitten darf, aber Cunnilingus geht klar, wenn du vor nicht länger als sieben Tagen rasiert bist. Ich kann dreimal, also kannst du zweimal Nachschlag bestellen. Und dein schickes Tonband kannst du ruhig anlassen dabei, irgendeinen Antörner brauchen wir ja.”
“Jetzt mal langsam.”
“Übrigens schätze ich phantasievolle Beinarbeit und eine straff trainierte Vaginalmuskulatur, dafür küsse ich wie eine gesengte Sau. Wenn du so ab der mittleren Phase schön was hören lässt, kann’s leicht sein, dass ich dir einen Zwanziger draufleg. Fragen, Einwände, Sonderwünsche?”
“Es ist nicht das Thema”, bewahrt sie Fassung, “ob ich Sie … ähm … küssen will …”
“Ach, nicht? Na, wenn Küssen kein Thema ist, kann ich auch am Bahnhof fragen.”
Sie rafft ihr Mikrophon nebst Aufnahmegerät zusammen, stemmt sich auf ihre bebenden Fohlenstelzen in die Höhe und verschwindet ohne ein weiteres Wort in der Menge. Hoffentlich kann sie das O-Tonmaterial verwenden, wenn sie sich mal um ein bezahltes Volontariat bewirbt.
Auf meiner anderen Seite hat sich eine hübsche junge Dame niedergelassen und planscht mit, wie alle am Brunnenrand. Strohhut auf naturroten Locken, dessen Krempe ein changierendes Schattengitter über ihre sommersprossige Himmelfahrtsnase breitet, hellblau geblümtes Sommerkleid. Sie wässert ihre adelig blassen Elfenbeine, darunter in geschmackvollem Dunkelrot abgesetzter Zehennagellack, Sommersprossen sogar auf dem Spann.
Ihre strahlenden Grünaugen hinter dem Schattengitter gucken streng. Sie versucht nicht zu lächeln, beim Sprechen erscheinen ihre Perlenzähne:
“Das hätt’s nicht gebraucht”, rügt sie mich.
“Die hat doch angefangen”, sag ich.
Sie prustet los.
36 Grad und es wird noch heißer: 2raumwohnung: 36 Grad, aus: 36 Grad, 2007:
I ain’t saying I beat the devil, but I drank his beer for nothing. Then I stole his song.
Kris Kristofferson, 1970.
Warum geht man eigentlich nicht viel öfter in Kneipen? Man kommt so leicht mit den Menschen ins Gespräch.
“Und, was machst du so?” fragt der neben mir. Lidl-Jeans Größe 48, Karohemd aus dem Baumarkt, schwarze Taxifahrerweste. Das Salz der Erde.
“Och, Werbetext”, sag ich.
“Was ist?”
“Werbung. Reklame. Schreiben.”
“Ah, schreiben! Schreibst du Buch?”
“Hab ich mal. Bücher sind nicht zu verkaufen.”
“Wollen verarschen? Gibt Büchergeschäft!”
“Jaja, für Reiseführer und Kochbücher.”
“Schreibst du Reiseführer und Kochbuch.”
“Ich komm ja nie raus und koch meistens Kaffee.”
“Wollen verarschen? Guckst du Internet, schreibst du. Verkaufen Büchergeschäft, reich.”
“Mit Bücherschreiben ist schon lang keiner mehr reich geworden.”
“Wollen verarschen? Nix verarschen lassen. Machst du gscheite Vertrag!”
“Ja, die Verlage warten sehnsüchtig auf zusammengegoogelte Reiseführer.”
“Einfach schreiben. Gibst du Büchergeschäft, nix Verlage.”
“Was geb ich denen? Wikipedia-Ausdrucke?”
“Wikipedia, Tripadvisor, Scheffkoch, alles.”
“Sie werden es mir aus den Händen reißen. Und mich damit erschlagen.”
“Zerscht zahlen. Nix verarschen lassen.”
“Besprech ich nachher mit meiner Frau. Wenn ich besoffen genug bin.”
“Bist verheiratet?”
“Jaja.”
“Wie lange?”
“Halloween zweitausend.”
“Wollen verarschen? Wer heiratet Halloween?”
“Bis jetzt hält’s. Akademikerehe!”
“Hast Kinder?”
“Zwei Kater.”
“Wollen verarschen?”
“Meine Frau hat eine große Tochter. Ich bin ihr zweiter Versuch, den Original-Daddy gibt’s noch.”
“Eigene nix?”
“Wo ich zuletzt nachgeschaut hab, war Weltüberbevölkerung, keine schmerzlich brachliegenden Wüsteneien.”
“Wollen verarschen?”
“Nö.”
“Frau arbeitet?”
“Grafikerin. Selbstständig.”
“Malen?”
“Webdesign. Geschäftsauftritte und so.”
“Ah, schlau. Lassen Frau arbeiten!”
“Keine Angst, kochen kann die auch.”
“Reklame schreiben deine einzige Job?”
“Muss reichen.”
“Frau nix dabei Bier trinken?”
“Die arbeitet nachts.”
“Du nix?”
“Doch, meistens.”
“Tag nix Arbeit?”
“Doch, schon auch.”
“Liegen auf die Sofa! Jajaja, hahaha!”
“Wie bringst du deinen Tag so rum?”
“Fahren Taxi. Immer Arbeit, Arbeit.”
“Logisch, da schläft sich nix.”
“Abend nach Hause, was essen, Frau. Dann Nachtschicht.”
“Allerhand. Wohnst du überhaupt?”
“Zwei Zimmer, Untersendling. Miete fast achthundert.”
“Au weh.”
“Hast viele Zimmer?”
“Alle für die Kater. Eins ist Büro.”
“Schwabing, oder?”
“Glockenbach.”
“Arsch offen? Alles Schwule!”
“Nö, meine Frau nicht.”
“Du?”
“Nein, ich auch nicht.”
“Na!”
“Versprochen.”
“Schwule nix lassen Frau arbeiten, hahaha!”
“Hahaha …”
“Frau arbeit viel?”
“Och, neue Aufträge sucht man immer.”
“Arbeit scheise, odder?”
“So schlimm nu auch wieder nicht.”
“Reicht für Miete zahlen?”
“Muss. Bei uns ist das keine Miete, wir zahlen an der Eigentumswohung.”
“Wollen verarschen? Nix mehr arbeiten, schon reich!”
“Von wegen. Wir wohnen ja selber drin. Eigennutzung, nicht abgezahlt und renovierungsbedürftig.”
“Warum nix vermieten?”
“Weil wir selber drin wohnen und die Burg nicht abgezahlt und renovierungsbedürftig ist.”
“Wollen verarschen? Hier München! Immer vermieten! Alle wohnen, wohnen!”
“Und wir ziehen derweil nach Pfaffenhofen, wo die Miete nix kostet?”
“Pfaffenhofen! Hast noch mehr Wohnung?”
“Schmarrn.”
“Wieviel zahlen?”
“Haben wir noch in D-Mark abgeschlossen, aber rechne ruhig mal deine Untersendlinger achthundert mal zwei.”
“Arsch offen? Zuviel für nix wie wohnen!”
“Dann schau mal nach, was inzwischen der Glockenbacher Quadratmeter kostet.”
“Gute Preis. Aber bei zwei schwule Arbeitslose … Geht nix.”
“Wir geben alles.”
“Warum Frau nix gehen fragen Arbeit?”
“Wen?”
“Wollen verarschen? Da vorne! Alles Läden! Alle brauchen Visitekarte und Fleier und alles! Internetseite, Geschäftauftritt! Fragen, Auftrag, Arbeit, reich.”
“Ja, gleich morgen, wenn ich meine Wikipedia-Ausdrucke in den Bücherladen bring.”
Warum geht man eigentlich nicht viel öfter in Kneipen? Jetzt weiß ich’s wieder: Man kommt so leicht mit den Menschen ins Gespräch.
Soundtrack: Kris Kristofferson: To Beat the Devil, aus: Kristofferson, 1970 (vielleicht das Beste, was er je geschrieben hat):
If you waste your time a-talking to the people who don’t listen to the things that you are saying, who do you think’s gonna hear? And if you should die explaining how the things that they complain about are things they could be changing, who do you think’s gonna care? There were other lonely singers in a world turned deaf and blind, who were crucified for what they tried to show, and their voices have been scattered by the swirling winds of time, ’cause the truth remains that no one wants to know.
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