Bewirtschaftet von Vroni und Wolf

Kategorie: Bücher (Seite 2 von 2)

Die Wildnis hat viele Gesichter.

“Was ist denn jetzt der Unterschied zwischen Gondwana und Pangäa?”

“Eins ist zerbröselt, das andere kommt erst noch?”

“Quack. Es müsste eher so wie der Unterschied zwischen Jahwe und Allah sein.”

“Vielleicht doch mehr der Unterschied zwischen Persephone und Proserpina.”

“Dass du immer gleich alles so ins Mythologische ziehen musst.”

“Pff.”

Conrad Ferdinand Meyer, Sämtliche Erzählungen, Reclam

Buidl: Selber gemacht und gemeinfrei gegeben, 8. Juli 2015.
Keine Rechte vorbehalten, aber bitte mit Quellenangabe. Wer die Buchhandlung errät, darf sich ein Eis kaufen. Sogar in der Buchhandlung.

Dem glänzt noch das Abendrot, der am Morgen wollt’ verzagen

Man konnte es seit über 17 Jahren ahnen und hat es seit etwas weniger befürchtet: Irgendwann müssen wir Moritz, den besten Miez der Welt und den Sonnenschein unserer Tage, begraben. Das Loch dafür auszuheben war vermutlich die schwerste Arbeit, die ich je verrichten musste — nicht so sehr wegen des widerspenstigen Lehmbodens unter der Hecke meiner Schwiegermutter, eher wegen der Aussicht, dass, wenn ich damit fertig bin, nichts Schönes und nichts Sinnhaltiges in der Welt übrigbleibt.

Von solchen Aussichten werden ganz die freudigen verstellt: In den frühen Morgenstunden des 1. Mai ist die Tochter des Hauses nach bewegter Walpurgisnacht zusätzlich zu ihren Titeln als Doktor und Professor auch noch Mutter geworden. Wie die Doktorarbeit und Habilitationsschrift heißen, hab ich vergessen, aber der Bub heißt Daniel.

Damit wäre nicht nur geregelt, wer mal unsere Wohnung, die wir einst um drei Katzen herumgekauft haben und die immer noch nicht abgezahlt ist, und — zum Beispiel — meine Bibliothek, die niemals vollständig sein wird, erbt, sondern sogar, an wen die ihrerseits sie weitervererben werden. Mithin lässt sich ab sofort absehen, wann die Wohnung von den Überlebenden als Schutthaufen in der falschen Gegend und die Bibliothek als ein paar Zentner Altpapier angesehen werden. Kreise schließen sich nicht, wenn sie Abwärtsspiralen sind.

Und was unternimmt Stiefopa? Spart seit 1985 auf nichts Bedeutenderes als die große durchkommentierte Ausgabe “Phantasus” von Ludwig Tieck, die für 102 Euro im Deutschen Klassiker Verlag, 1-, 2- und 5-centweise in drei Kaffeetassen, als ob er damit den Wohnwert steigern könnte. Vroni meint: “Na, wenn’s texten hilft.”

Erwachsensein ist kein Gewinn; Erwachsensein heißt dreißig Jahre lang auf ein Buch zu sparen und dann nach einer Entscheidung von drei Sekunden den Betrag knapp zu verdoppeln, um davon seinen besten Freund einschläfern zu lassen. Wahrscheinlich hatte Moritz auch damit recht, vor seinem Achtzehnten abzutreten — was allerdings nicht mehr für die neue Hoffnung namens Daniel gelten kann, der gar nicht mehr zu vermitteln sein wird, wer oder was mal ein “Ludwig Tieck” war.

Moritz hätte gesagt: “Ihr Dosenöffner habt manchmal echt nicht alle Haare an der Schnurrn.”

Soundtrack: Reinhard Mey: Menschenjunges aus: Menschenjunges, 1977.

21–15

Moritz missbilligt, wenn ich die Schedel’sche Weltchronik lese. Die Schedel’sche Weltchronik ist doppelt so groß und dreimal so schwer wie eine Katze, dafür nicht ganz so gescheit wie Vroni.

Der Tanz um das Goldene Kalb, Schedelsche WeltchronikVroni missbilligt ebenfalls, wenn ich die Schedel’sche Weltchronik lese. Die Schedel’sche Weltchronik ist nämlich von 1493, und da lernt man kein gutes Deutsch, sagt sie. Dabei hat sie’s noch besser als Moritz, weil ich ihr nicht mit dem Folianten in der Aussicht auf den Fernseher liege. Sie guckt G 20. Moritz versucht sich an der Schedel’schen Weltchronik vorbei auf meinen Bauch zu lagern.

“Was genau”, frage ich, “was genau unterscheidet eigentlich das fünfzehnte Jahrhundert vom einundzwanzigsten?”

“Spielst du gerade an auf G 20 oder auf deine jungsteinzeitlichen Tontafeln da?”

“Das mein ich ja: Ist irgendwas weitergegangen? Warum gehen die Leute überhaupt aus dem Haus, wenn sie vollständige Armeen zum Schutz davor brauchen, dass sie keiner erschießt? Warum bleiben die nicht daheim und überlegen, warum das so ist?”

“Nochmal: Meinst du im Fünfzehnten oder jetzt?”

“Nochmal: Wurschtegal. Was ist der Unterschied?”

Vroni überlegt kurz. “Naja … Gewaltherrschaft … Herrscherwillkür … alles Analphabeten … praktisch kein Bildungswesen … keine Sozialleistungen außer von der Kirche … Verbot von ganzen Kulturen und Religionen … Völkermorde … Leibeigenschaft …”

“Okay”, sag ich, “und im Fünfzehnten?”

“Keine Tampons.”

Endlich weiß ich wieder, warum diese Frau mich geheiratet hat, und kann auf meinem Bauch Platz für Moritz machen: Wer braucht Hartmann Schedel, wenn er Vroni hat, bloß weil er auch aus Nürnberg ist? Nix wüsste man ohne die, nix.

“Einundzwanzig minus fünfzehn?”

“Saubär.”

Zweyn lehrsame piltln: Der Tanz um das Goldene Kalb;
Michael Wolgemut: Nürnberg von Süden, 1493 für die Schedel’sche Weltchronik, Blatt 99/100 via Franken-Wiki und NürnbergWiki.

Tintenherz

A person who won’t read has no advantage over one who can’t read.

Mark Twain

Unser Halloween-Beitrag

Schopftintling Zeichen des Verfalls

Fund an den Isarauen. Foto: Vroni Gräbel

Schopftintling - der Verfall eines Speisepilzess

Schopftintling, jung den ersten Tag lang eine kulinarische Köstlichkeit, später mit spektakulärem Abgang. Foto: Vroni Gräbel

Tintenherz – Der Verfall. Statt Kürbisse allenorten.

Dieser Pilz ist jetzt in die Welt des Blog-Lesens als Platzhalter verschwunden. Es gibt ihn bereits in der Natur nicht mehr. *

 

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* Schopftintling, Altersform kurz vor dem Ver-wesen. Als junger Schopftintling wäre er ein hervorragender Speisepilz gewesen.

 

 

Druschba s Russalkaj (Zum Verständnis von Puschkin und Putin)

Elfenbeintürme stehen in Verruf.

Das ist falsch gedacht. Die Welt, jedes Land, jede Stadt, ja wahrscheinlich jedes Haus, braucht einen Elfenbeinturm. Nicht weil ich so ein krautsköpfiger Arbeitsverweigerer bin, sondern weil ein gut geführter Elfenbeinturm das ist, was jede kulturelle Gemeinschaft von einer Horde Graugänse unterscheidet.

Bei uns ist das so: In unseren Regalreihen wohnt seit Jahren eine Auswahlausgabe von Puschkin in vier Bänden. Sie könnte vollständiger sein, weil ich Herausgebern mehr misstraue als meiner eigenen Schmökerkompetenz, aber kaum schöner. Echt antiquarisch, handlich moppelig, bombenfest gebunden, außen schmuck verziert und innen hübsch gesetzt und illustriert — kein wunder wie beeindruckender materieller Wert, nur ein ganz und gar liebenswerter Block aus vier Büchern, von dem die Welt ein Stück besser wird: Jeder wie er kann.

Die Jahreszahl darin lautet 1950, die Ausgabe ist also vermutlich 1949 erschienen und geschah zu Alexander S. Puschkins 150. Geburtstag; dergleichen Vordatierung von Büchern ist bei Verlagen bis heute weithin üblich. Der Verlag heißt: Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau.

Moskau 1949, Deutschland 1949. Da war außerhalb der Köpfe und Eingeweide von Elfenbeintürmern der Stalingrader Kessel sehr viel präsenter als eine Moskauer Verlegerstube. Für die Jubiläumsausgabe zum runden Geburtstag des so ziemlich beliebtesten russischen Volksdichters — Russland hält sich Volksdichter! — wurden die ausgewählten Werke neu übersetzt, erschlossen und kommentiert. Das Inhaltsverzeichnis weist unterschiedliche Übersetzer aus, allesamt mit deutsch lautenden Namen, als Herausgeber zeichnet ein W. Neustadt. Um pünktlich 1949 fertig zu werden, müssen sie einige Jahre vorausgeplant und sich noch inmitten Kriegs- und Nachkriegswirren drangesetzt haben.

Sie haben richtig gehört: 1945 oder jedenfalls ziemlich knapp nach Weltkriegsende wurden in Moskau, der Hauptstadt des deutschen Hauptfeindes, deutsche Gelehrte einer orchideenhaften Fachrichtung beschäftigt, um einen Märchenerzähler und Gedichteschreiber zu feiern. In einer Stadt, die im Krieg ihrerseits wesentlichen Schaden an Menschenleben, Gebäuden und Volksseele genommen hatte, nicht zuletzt durch Schuld von deutschen Landsleuten — auf einem verdammten Trümmerhaufen. Und zwar noch bevor die mittelfreundlich regierte Besatzungszone im Feindesland ein mittelmäßig geliebter Vasallenstaat wurde. Wahrscheinlich um ein Zeichen des Friedens nicht wohlfeil auszusprechen, sondern über nicht absehbare schwere Jahre hinweg zu leben, in dem Bewusstsein, dass es so ja wohl nicht lange weitergehen kann.

Ist dergleichen vorstellbar? Nicht immer, nicht überall, nicht unter allen Umständen. Aber in unserer Puschkin-Ausgabe steht’s drin, in kyrillischem Russisch und in Deutsch und, so wörtlich, “printed in the Union of Soviet Socialist Republics”. Das ist nicht weniger denn, mit Verlaub: heldenmütig.

Wenn man heute von Russland hört, dann von Gospodin Vladimir Putin. Nein, ich verstehe nichts davon, was dieser Mann treibt, und wenn, dann treibt er es sicher nicht allein. Mir macht einfach Angst, was er mit einem der tollsten Länder der Welt anstellt, für das er verantwortlich ist, und mit einigen anderen, zu denen er — ebenfalls schon rein aus Verantwortung — freundschaftliche Verbundenheit pflegen sollte; wenn der Krieg auf deutschen Boden lappt, werde ich schon beizeiten davon erfahren. Ich verstehe nur, dass er mit den Palmenstränden der Krim und dem kältesten bewohnten Punkt der Erde, mit wahrlich nicht enden wollenden Ebenen und gerade mal so grob kartographierten Gebirgen, mit den Hirschkäfern der Taiga und den Tigern der Kamtschatka, mit dem stillen Don, Wolga, Dnjepr und Ob, lauter väterlich gewaltigen, erdteilbeherrschenden Strömen, die Mississippi und Amazonas, Rhein und Donau in nichts zurückstehen, mit Millionenstädten, die annähernd lückenlos aus Weltkulturerben bestehen, und so weiten Steppen, dass sie mehr als einmal durch bloßes Herumliegen ein angreifendes Resteuropa ausgehungert haben, mit Menschen, die sich auf so unnachahmliche Leistungen verstehen wie eine so ausgefeilte wie ergreifende Volks- und eine höchst eigenständige klassische Musik, eine weltweit beispielgebende Literatur, einen Wodka, der kein Schädelweh verursacht, einen bestürzend schwarzen Rotwein oder eine Vielfalt von Suppen, deren jede mit dem Körper auch den Geist kräftigt, mit einem geschlagenen Siebtel der Weltproduktion an wissenschaftlichen Arbeiten und einem Fünftel der Erdoberfläche (die Meerflächen eingerechnet) — dass Putin, sagte ich, mit all diesen herzweitenden Gottesgaben, auf die jeder Landesbewohner tatsächlich so etwas wie stolz sein könnte, ohne sie persönlich erfunden zu haben, umspringt wie ein verzogener Rotzbengel von fünf Jahren, dass man laut Scheiße schreien und ihm sein Land aus den Händen reißen und vorsorglich eine schallern möchte, bevor er noch mehr kaputt macht. Und dass in der Zeitung dauernd über ihn geredet wird wie über einen tollwütigen Pitbull, den man mit keinem Wort reizen darf, weil er sonst reflexartig alle totbeißt und das ganze Haus in rauchende Trümmer legt — und dass man ihn da doch verstehen muss.

Kann diese, um nicht beleidigend zu werden: diese Führungskraft, die offensichtlich nie ansatzweise verstanden hat, was ihre Aufgabe ist, nicht einmal im Leben anteilnehmend einen Elfenbeinturm besuchen, wie sie hoffentlich immer noch in Moskau und sonstwo auf der Welt vorkommen? Man würde ihn in jedem einzelnen davon respektvoll empfangen und mit aufrichtiger Freude willkommen heißen, egal was er zuvor angestellt hat, da wette ich meine Puschkin-Ausgabe drauf. Da kann er was lernen, was für einem Land er vorsteht und in was für einer unwiederbringlich wahnsinnig wunderschönen Welt er leben darf, da schicken wir ihn und jeden, der beruflich lebendige Leute beeinflussen soll, mal pflichtterminmäßig hin.

Und unsern kranken Nachbarn auch.

Alles zerfällt im Augenblicke, wenn man nicht ein Dasein erschaffen hat, das über dem Sarge noch fortdauert.

“Die Frage ist doch: Warum ist in der Winkler-Ausgabe von Adalbert Stifter im Band mit den ‘Studien‘ auch ‘Die Mappe meines Urgroßvaters’ drin — und dann im Briefe-Band gleich nochmal?”

“Weil in manchen Handy-Verträgen Auslandsfreiminuten drin sind und in manchen nicht?”

“Und ich dachte schon, weil die meisten Leute zwei Urgroßväter haben.”

Kluges Kerlchen.”

Wir raten zu: Adalbert Stifter: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, dtv 2005;
Wir raten ab: Adalbert Stifter: Sämtliche Erzählungen nach letzter Hand, Der Nachsommer, Witiko — und “Die Mappe meines Urgroßvaters” in der Fassung von 1847. Die sind alle breitärschig und senil, anheimelnd und tauglich für Freibad und Kaminfeuer sind die “Studien” in Erstfassung.

May contain language/Kann Spuren von Aussagen enthalten

Alle Welt hat dieses Buch gelesen, aber sich noch niemand erschossen. […] Ich weiß aber, daß einer sich erhängt hat, der einen theologischen Schrieb gegen Goethe bis zum Ende durchgelesen hat.

Christian Gottlieb Hommel, 1778.

Nach dem Essen, Rauchen, Vögeln und Radfahren wurde endlich auch das Bücherlesen als gesundheitsgefährdend erkannt — ausnahmsweise kein Witz, und vorerst nur in Amerika, wo alles Gute herkommt, das erfahrungsgemäß fünf Jahre bis Europa braucht. Bücher (und die alten Papierstöße, die ebenfalls Bücher heißen) sollen deshalb im weiteren Verlauf Trigger warnings tragen, die Schwangere, posttraumatisch Belastete, Minderjährige und Simpel vor den Folgen des Lesens bewahren.

Warum ich das verstehe: Auf CDs und Computerspielen muss ja auch irgendwo draufstehen, wenn irgendwann in den siebzig Minuten einer kurz “Fuck” dazwischennuschelt: “Contains explicit lyrics”; Museen sind gehalten, ihre letzten gelangweilten Rentner zu vergraulen, indem sie das “Material” anprangern, das “manche Besucher als verletzend empfinden” können. Die fürsorgliche Zensur, die keine sein mag, hebt uns also schon niemand mehr auf.

Dolly's Underworld of Edits, 9. Januar 2014Beim Konsum schon geringer Dosen Marcel Proust werden häufig Anfälle von Narkolepsie beobachtet. Beim Hinaufkraxeln zum Buchstaben A in der Stadtbücherei hat’s mich als Kind mal fast von der Leiter grebröselt. Die leichtfertigen Ermutigungen in “Fifty Shades of Grey” (ich hoffe, das ist nicht übersetzt…) führen immer wieder zu Haushaltsunfällen — der häufigsten Todesursache nach dem Missbrauch von Tabak und Lebensmitteln. Wenn also heutzutage immer noch das Gehen auf Straßen, das ungeschützte Kochen von Kaffee und das Betreiben von Wäschetrocknern, in denen sich Personen und Wellensittiche aufhalten können, legal sind, muss wenigstens jeder Nutzer von Bierflaschen und Büchern jedes liebe Mal wieder darauf gestoßen werden, dass einem von Frank Schätzing mindestens so schlecht wird wie von Oettinger Hell. Überhaupt rechne ich seit jeher zu meinem Recht auf freie Information – und schätze es hoch –, dass ich Sachen, die ich nicht vertrage, nicht lese.

Warum ich das nicht verstehe: Wer geldwert arbeitet, kann gar nicht risikofreudig genug sein. Ein Job, der nicht gleich eine “Herausforderung” ist, kann nur liederliche Freizeit sein. Und in der Freizeit, die man sich politisch noch nicht so recht der freien Verfügung des Arbeitsviehs zu entwinden traut, muss es am sorgfältigsten beaufsichtigt werden. Aber Shakespeare stiftet zum Antisemitismus an (“Der Kaufmann von Venedig”!), E.T.A. Hoffmann zur Verhöhnung von Obrigkeiten (“Meister Floh”!) und zum Saufen (“Der goldne Topf” u.ö.), Erich Maria Remarque zur Vorbereitung eines Angriffskriegs und Rosamunde Pilcher zum voreiligen Auswandern nach Cornwall? Die neue, viel weiter reichende Qualität daran ist, dass nicht mehr moralisch zum Schutz von Minderheiten argumentiert wird, sondern gesundheitlich. Eine Zensur findet nicht statt. Eine Frechheit schon, aber die steht in keiner Landesverfassung.

Warum ich das überhaupt nicht verstehe: Seit wann wird Literatur so ernst genommen? Zuletzt ist das mit dem “Werther” passiert, der “eine Empfehlung des Selbst Mordes” sein sollte. Aber das war punktuell in einzelnen Städten, voran Leipzig, mit einem einzigen Buch, und es war 1775, tief im Feudalismus, kurz vor der Französischen Revolution. Und ich bin nicht sicher, ob das hierher gehört.

Ungesunder Lesestoff: Dolly’s Underworld of Edits, 9. Januar 2014.

Meistens ist offen.

Türschild Geschäftszeit Antiquariat Hauser, Schellingstraße 17, München

Die Stunden verrannen unmerklich, und noch immer schritt ich mit hungrigen Augen prüfend von Regal zu Regal, als ich in einer Ecke einige grosse, eben erst geöffnete Kisten erblickte und bei ihnen den Buchhändler, wie er sorghsam Band um Band heraushob, aus der Papierhülle befreite, aufmerksam die für seine Kataloge erforderlichen Angaben notierte und nach kurzerm von jahrelanger Übung zeugender Überlegung, rasch und sicher neben jedes Buch seiner Liste den Preis setzte. Ich trat hinzu und fragte nach Herkunft und Inhalt der Sendung; worauf er mir, mich mit den alten klugen Augen ansehend, vertraulich und wie einem Eingeweihten seine Auskunft erteilte. Die Bücher kamen aus Upsala und enthielten in bunter Reihenfolge Werke von Holberg und Sars, seltene Nachdrucke älterer deutscher Dichter wie Fouqué und Wieland und ganze Reihen von Öhlenschläger Ausgaben und Übersetzungen. Ich griff nach dem nächsten Stapel und sah eine Ausgabe der Werke von E.T.A. Hoffmann in 10 Bänden, Berlin, 1827–28 in entzückenden grünen Einbändenmit goldenem Rückenschildchen; ich hatte zufällig den Band herausgegriffen der die “Prinzessin Brambilla” enthielt mit ihren Kupfern nach Jacques Callot, den phantasstischen Masken und ihren seltsamen Tänzen, und dachte der Stunden, da ich zuerst bei sommerlichem Lampenschein die Erzählungen des Kammergerichtsrates las und in ihm den großen Zauberer und Dichter verehren lernte.

Arno Schmidt: Die Insel, 1937, Einleitung,
in: Bargfelder Kassette 1, Juvenilia.

Ludwig Tieck is coming home

Vorher: Aus dem Antiquariat Stefan Küpper, Duisburg. Wölfchen-Anhänger aus Thoddys Wolf-Kinderclub, ca. 1999:

Briefkasten

Nachher: Ludwig Tieck: Frühe Erzählungen und Romane, Winkler-Verlag München, 1963: Franz Sternbalds Wanderungen, Waldlied, 1798:

Ludwig Tieck, Franz Sternbald, Doppelseite

     Waldnacht! Jagdlust!
Leis und ferner
Klingen Hörner,
Hebt sich, jauchzt die freie Brust!
Töne, töne nieder zum Tal,
Freun sich, freun sich allzumal
Baum und Strauch beim muntern Schall.

     Kling nur Bergquell!
Efeuranken
Dich umschwanken,
Riesle durch die Klüfte schnell!
Fliehet, flieht das Leben so fort,
Wandelt hier, dann ist es dort –
Hallt, zerschmilzt, ein luftig Wort.

     Waldnacht! Jagdlust!
Daß die Liebe
Bei uns bliebe,
Wohnen blieb’ in treuer Brust!
Wandelt, wandelt sich allzumal,
Fliehet gleich dem Hörnerschall: –
Einsam, einsam grünes Tal.

     Kling nur Bergquell!
Ach betrogen –
Wasserwogen
Rauschen abwärts nicht so schnell!
Liebe, Leben, sie eilen hin,
Keins von beiden trägt Gewinn: –
Ach, daß ich geboren bin!

Wer .kf8-Dateien löscht, muss keine Bücher verbrennen

Update zu À la recherche de l’Ivar perdu:

Auch sowas, das vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen wäre: Man trifft nahezu täglich ausgelesene Bücher im Mülleimer.

Um den Verhandlungsweg zu Godwin’s Law abzukürzen: Wahrscheinlich verschwinden die Bücherverbrennungen inzwischen aus dem kollektiven Gedächtnis; Bücher mit ihrer darin festgeschriebenen Meinungsfreiheit sind nicht mehr das schützenswerteste aller Kulturgüter, sondern etwas unpraktische Lesegeräte, die vergilben.

Ob das schlimm ist? Zumindest ist es ein entspannter Umgang mit Medien. Illegal ist es vermutlich nicht, da muss man als Mediennutzer schon dankbar sein. Außerdem weiß ich noch, wie man seinerzeit ums Abendland fürchtete, als die Schallplattenläden von LPs (das waren pizzagroße Tonträger aus Polyvinylchlorid mit besonderen Soundeffekten) auf CDs umstellten. Dabei war das reines Entgegenkommen: CDs musste man nicht nach der Hälfte ihrer Laufzeit umdrehen, und durchs Aufnehmen entstanden keine neuen Soundeffekte.

Die Bücher im Abfall finden sich immerhin meistens im Altpapier. Und Strg + F vermiss ich bei denen schon lange. Aber ich schau trotzdem erst mal, ob Kindle-Versionen länger lesbar bleiben als die weiland Disketten, so viel zu lesen hab ich noch.

Übrigens: Wer eine wirklich echte, originale, unwidersprechlich fälschungsfreie und antiquarisch tragfähige Goethe-Erstausgabe besitzen will, soll mal nach Wilhelm Meisters theatralische Sendung suchen. Die ist nämlich erst 1911 rekonstruiert, gilt aber als eigenständiges Werk von Goethe. Hab ich gerade, ohne übertrieben angestrengt zu suchen, für 15 Euro gefunden, und zwar von 1911, keinen der lizenzfreien Nachdrucke von Aufbau und Reclam. Es ist eine Lust, im 21. Jahrhundert zu leben.

Das Wetter:

Paul Gerhardt, Praxis Pietatis Melica – Das ist Übung der Gottseligkeit in christlichen und trostreichen Gesängen, 1653, TitelblattAnhaltende Schauder.

Die Bächlein rauschen in dem Sand,
und mahlen sich und ihren Rand
mit schattenreichen Myrthen,
Die Wiesen liegen hart dabei,
und klingen ganz von Lustgeschrei
der Schaf und ihrer Hirten.

Paul Gerhardt: Geh aus, mein Herz, und suche Freud
in: Praxis Pietatis Melica – Das ist Übung der Gottseligkeit in christlichen und trostreichen Gesängen, 1653, 5. Strophe.

Damit weiter im Programm. Schönes Wochenende.

Bild: gemeinfrei.

Schreib doch einfach Rotbäckchen

Rotbäckchen

Wenn man sich ein Lieblingslied, eine Melodie erwählt, die beständig eine Seite unsrer Empfindung trifft, so kann man oft dadurch die bösen aufsteigenden Gedanken verjagen. Es wachen mit diesem Liede oft alle unsre guten Vorsätze wieder auf, unsre beßre Natur behält die Oberhand, und wir tragen über die Lockung zum Bösen den Sieg davon. Drum wähle dir ein Lied, eine sanfte herzeindringende Melodie, und wenn deine bösen Stunden kommen, so fasse nur noch so viel Mut, das zu singen, oder zu spielen, und die Wolken die sich um deine Seele gesammlet hatten werden sich zerteilen, und die Sonne wird wieder in ihrer Klarheit hervorbrechen.

Karl Philipp Moritz: Beiträge zur Philosophie des Lebens aus dem Tagebuch eines Freimäurers. Herrschaft über die Gedanken, 1780. Insel 1981: Werke Band 3, Seite 15.

Melodie, die beständig eine Seite unsrer Empfindung trifft:
Young Rebel Set: If I Was, 2009.

Diese Woche gelernt:

  1. Zu warm zum Schneien ist immer noch zu kalt zum Schneeschippen;
  2. ein medial überpräsenter Beruf wird nicht zwingend durch eine leicht zugängliche Ausbildung erreicht (“Sexperte”!);
  3. die 1922er “Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen” von Gilbert Keith Chesterton, die der Enzensbergers-Hans Magnus mal in der Anderen Bibliothek herausgegeben hat, erwischt man heute ungelogen noch am besten als Taschenbuch eines erzkatholisch-erzbischöflich geführten Verlags am Schriftenstand in der Theatinerkirche St. Kajetan am Odeonsplatz (bitte ehrlich bleiben und die 9,90 Euro in den Opferstock auf mindestens 10 aufgehen lassen!).

Soundtrack: Die Doraus und die Marinas: Die Welt ist schlecht, das Leben ist schön, was ist daran nicht zu verstehn? aus: Die Doraus und die Marinas geben offenherzige Antworten auf brennende Fragen, 1983.

Stück 1—5 €!!!

Zur Selbsthilfe rede ich mir ab heute ein: In Bücherkisten reicht ein Blick im Vorbeigehen, es sind nie andere dabei. Jedenfalls nicht wesentlich andere. Offenbar wurde Anfang der 1970er Jahre ein Bestand von Büchern gegründet, der unter Antiquaren weiterverkauft wird. Wenn ein Bücherkunde eins wegkauft, muss ein neues eingespeist werden. Das passiert aber pro Barsortimentergebiet nur einmal im Jahr. Dann muss immer der Club Bertelsmann einen Remittenden stiften. Die Lücken in den Umzugskartons werden mit Reader’s-Digest-Auswahlbüchern aufgefüllt. Reclam entsorgt laufend seine eigenen Schulklassensätze von Catull und Gerhart Hauptmann. 2013 sollen die Harry Potters dazukommen, 2016 Twilight.

  • Luis Bromfield: Der große Regen
  • Pearl S. Buck: Die gute Erde
  • Dale Carnegie: Sorge dich nicht, lebe!
  • Christliches Vergißmeinnicht
  • Roald Dahl: Küßchen, Küßchen!
  • Theodore Dreiser: Eine amerikanische Tragödie
  • Hans Fallada: Der eiserne Gustav
  • Anne Golon: Angélique 1—10
  • Willy Heinrich: So long, Archie
  • Hermann Hesse: Peter Camenzind
  • Ephraim Kishon: Im nächsten Jahr wird alles anders; Nicht so laut vor Jericho
  • Thomas Mann: Der Zauberberg; Joseph in Ägypten
  • Thyde Monnier: Liebe — Brot der Armen
  • Boris Pasternak: Doktor Schiwago
  • Harold Robbins: Die Aufsteiger; Die Gnadenlosen; Die Traumfabrik; Die Unersättlichen
  • Françoise Sagan: Bonjour tristesse
  • Gaby von Schönthan: Die Rosen von Malmaison
  • Adalbert Stifter: Der Hochwald

Insel Bücherei Bücherkiste

„Family from Hell“ oder: Kleine Morde unter Freunden

 

"Clients from Hell" kenne ich als Site.

…als Buch als Gute-Nacht-Lektüre (ISBN 978-0-9824739-3-1); darin wird die missverständliche Sicht auf unsere kreative Arbeit in zahlreichen wunderbaren Geschichten nacherzählt. Diese sind wahr, unfassbar und daher brüllwitzig komisch!

kennt es Thilo vom fontblog.

 

Wer aber kennt das Buch "Family from Hell"?

Ich! Ganz alleine!

Die missverständliche Sicht auf kreative Arbeit darf ich im realen Alltag ab und an „genießen“. Zu Besuch gestern bei meinen Lieben auch wieder.

Nicht nur, dass sie kaum verstehen, was ich mache. (Der Klassiker: „Irgendwas mit Computer, aber früher war das doch mit Pinsel …“) Das habe ich langsam kapieren müssen, dass sich das wohl nie ändern wird. Denn eine Erklärung, was ich eigentlich wirklich mache, die länger ist als 2 Sätze, wird nicht gewünscht und ihr wird auch nicht zugehört. Werde eher abrupt unterbrochen, dass es doch besser gewesen wäre, wenn ich Lehrer geworden wäre, weil ich so gerne belehren würde…

Ich gab es also schon vor längerer Zeit auf. Muss ja keine Magengeschwüre kriegen.

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Man gibt mir aber auch regelmäßig ungefragt Ratschläge, dass ich den „Kunden“ halt einfach alles machen solle, was sie wollten. Ihnen beispielsweise Stellenanzeigen gestalten, wo HohlSPIEGEL-reif widersprüchlichster Schwachsinn im Text stehen solle. Nicht beraten! Die wollen das halt und dann machst du das halt so! Denn dann wären diese zufrieden mit dir und das sei Dienstleistung.

Sie halten sich damit jedoch nicht allzu lange auf, lassen mich verdattert stehen und sprechen bei Torte wieder darüber, wie teuer ihr Gärtner geworden sei, ihre neue Nagellackfarbe, und dass sie versuchen wollen, aus ihrem geschlossenen Immobilienfonds herauszukommen, der zu wenig Ertrag abwirft … .

Was steh' ich aus.

Ich weiß manchmal nicht, ob ich über Realsatire im Alltag lachen oder weinen soll. Satire besser im Buch oder im Film! Besser ist das.

DVD-Empfehlung: „Kleine Morde unter Freunden“

 

À la recherche de l’Ivar perdu

Die komischen Bücher, die elektrisch laufen, setzen sich durch. Haben vor ein paar Jahren noch Leute allen Alters zu meinem Entsetzen “Harry Potter” gelesen, sitzen sie heute mit der größten Selbstverständlichkeit im Bus und scrollen durch Kindles, E-Book-Readers und iBooks und wie das neumodische Blinkerzeug sonst heißt. Egal ob mittags oder nachts um zwölf, es ist richtig allgemein geworden. Lassen Sie da jetzt noch ein Weihnachtsgeschäft drüberziehen, dann gibt’s die Dinger so flächendeckend wie vor den “Harry Potter”-Schmonzetten die Handys. Sprechen wir uns ruhig nächtes Jahr um die Zeit nochmal.

Sie merken schon: Der alte Märchenonkel hat wieder Vorbehalte gegen technische Neuerungen. Mein Avantgardismus äußert sich am ehesten darin, dass ich als erster mein Handy abgeschafft hab, als man das ohne soziale Einbußen wieder durfte, wegen Simplify und allem.

Aber die Frage ist doch: Unterschreiben die Dichter auf ihren Lesungen jetzt immer auf dem Kindle-Gehäuse? Oder muss ich die in einem kostenpflichtigen Log-in extra anfreunden, damit sie mich liken können? Erscheint die Werbung für Pfandbriefe und Kommunalobligationen dann als Bildschirmschoner? Oder werde ich noch target-optimierter angespammt: “Kunden, die schon Joanne Rowling nicht gerade heiraten wollten, könnten auch Stephenie Meyer eine schallern”? Wenn man eins im Amazon Marketplace loswerden will, in welchem Zustand ist es noch “wie neu” und ab wann nur noch “sehr gut”? Und “akzeptabel” wäre dann mit einem stehen gelassenen Bookmark an der Stelle, wo sich das Fräulein, das in der Verfilmung mit Keira Knightley besetzt war, die Haare und das Strumpfband löst? Und muss man sich wegen Eddingspuren auf dem Touchscreen Blondinenwitze anhören?

Den Platz, der durch Strombücher in den Regalen frei wird, kann man nicht mal mit CDs auffüllen, weil man die seit 2006 als Festplatte hat. Wie praktisch, dass man sowieso neuerdings Ikea boykottieren soll, da bring ich endlich einen A3-Scanner unter.

Wer heuer als erstes die PR-Headline “Ihr Kindle kommet” sichtet, kriegt einen Lebkuchen von mir.

Herkömmliche Leserin: Valhallaphoto: Carina, 9. April 2011
(Buch: Ringenes Herre, süß, ne?).
Fortschrittliches Buch: a-ha: Take On Me,
aus: Hunting High and Low, 1985.

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