In Bayreuth müssen sie sich gar nicht mehr eingekriegt haben vor lauter Feiern. Jedenfalls hätte sich genau letzte Woche ein Besuch da oben rentiert, weil man, wenn man denn schon mal hin muss, gleich zwei Sachen mitnehmen konnte:

  1. 150 Jahre “Tristan und isolde”,
  2. die Blüte der Titanwurz.

In Punkt 1, dem “Tristan”, wie wir Wagnerianer, Brahmsianer und Indie-Indianer sagen, geht’s gleich im zweiten Takt, also praktisch ab der ersten Sekunde, los mit dem Tristan-Akkord, der dann die restlichen — für eine Wagner-Oper eher straff gehaltenen — vier Stunden gar nicht mehr aufhört.

Weil man sich bei Richard Wagner über viel beschweren kann, nur nicht über einen Mangel an kuriosen Einfällen, heißt so eine Erscheinung Leitmotiv, und nach den bisherigen 150 Jahren ist noch nicht einmal die Diskussion darüber beendet, in welcher Tonart das Ding überhaupt steht. Und der Organist in den “Buddenbrooks”, er hieß Pfühl, musste nur 25 Takte aus dem Klavierauszug des “Tristan” in einer häuslichen Übungsstunde probeweise anklimpern, um “mit allen Anzeichen des äußersten Ekels” (Thomas Mann, Wagnerianer, a.a.O.) zu urteilen:

Das ist keine Musik … glauben Sie mir doch … ich habe mir immer eingebildet, ein wenig von Musik zu verstehen! Dies ist das Chaos! Dies ist Demagogie, Blasphemie und Wahnwitz! Dies ist ein parfümierter Qualm, in dem es blitzt! Dies ist das Ende aller Moral in der Kunst!

Heutigentags hätte man Herrn Pfühl (der später im Roman sinnloserweise doch noch zum Wagnerianer umschwenkt) derweil zu Punkt 2 in den Ökologisch-Botanischen Garten der Universität Bayreuth schicken sollen, da hätte er ihn erlebt, seinen parfümierten Qualm. Dort hat am 6. Juni zum ersten Mal in den weltweit erhaltenen Aufzeichnungen die Titanwurz, immerhin die größte Blume der Welt, zum zweiten Mal innerhalb zehn Monaten geblüht, leider ausnahmsweise am 6. Juni 2015 a wengla kleiner als am 1. August 2014: heuer nur mit einem Durchmesser von 2,03 Meter.

Weil die Botaniker 1878, als einer von ihnen, er hieß Odoardo Beccari, auf Sumatra so eine Wurz entdeckt hat, so wenig der kuriosen Einfälle ermangelten wie Richard Wagner 13 Jahre vorher, heißt sie wissenschaftlich Amorphophallus titanum, und so riecht sie auch. Der Duft wird von seinen Liebhabern, Befürwortern und Förderern beschrieben, “als sei eine Biotonne mit Fleischabfällen darin in der Sonne geparkt und sehr, sehr lange nicht geleert worden” bis “wie eine tote Maus, die man tagelang nicht findet”. Und das in einem absichtlich schlecht gelüfteten Tropengewächshaus. Wahrscheinlich hat wegen der Titanwurz “Aasgeruch” seine eigene Weiterleitung in Wikipedia (zu “Aas” nämlich).

Ähnlich wie beim Tristan-Akkord innerhalb des “Tristan” ist das kein Manko des sympathischen Aronstabgewächses, sondern muss so sein, um bei der kurzen Blütezeit besonders fiese Insekten anzulocken, die sich nicht zu schade sind, diese Ungurken zu befruchten und, ohne Dank zu erwarten, ihr Fortbestehen zu sichern. Letzten Samstag im Botanischen Garten hat’s allerdings nur für 4500 Besucher gereicht.

Pickelhart, die Bayreuther. Wer bei “Tristan”-Stellen wie “Vergessens güt’ger Trank, dich trink ich sonder Wank!” eineinhalb Jahrhunderte ernst bleiben kann, wird wohl noch zwei Tage lang Titanwurz schnuppern können.