Bewirtschaftet von Vroni und Wolf

Monat: Juni 2015

Die Hölle, das sind immer die gleichen

In der Gegend, wo Münchens letzte paar ernstzunehmenden Antiquariate die letzten Erbmassen Altpapiers verhökern, macht eine unschlagbar treffende Wandverzierung auch noch ein Drittel Göttliche Komödie überflüssig:

München, Maxvorstadt, Türkenstraße, Die Hölle macht keinen Spaß

Das ist natürlich der Teil Inferno auf den Punkt gebracht. Bei der Location und der Typographie hätte sich sogar noch Gustave Doré seinen großmächtigen Zyklus von Illustrationen sparen können.

Wenn der Meister seinen 750. Geburtstag hinter sich hat, sucht man endlich nach einer anständigen Dante-Ausgabe, und dann das. Kein Wunder, dass es die Antiquariate so dahinrafft.

Bild: Hauseinfahrt Türkenstraße, selbergemacht und gemeinfrei gegeben, 25. Juni 2015.

Anarchistisches Glaubensbekenntnis

Das Plakat mit dem Text von 1910 hängt zur Stunde noch einige Meter neben dem Kafe Marat, das keinesfalls zu verwechseln ist mit dem Tröpferlbad im gleichen Gebäude; nur inzwischen etwas abgewanzter. Von den zwei Läden will wahrscheinlich bloß keiner “in die rechte Tür” sagen müssen, wenn er neue Proselyten rekrutiert hat. Seine Inhalte mache ich mir vorsichtshalber nicht zu eigen, solange ich es nur korrekturgelesen, aber nicht verstanden hab. Schon gar nicht öffentlich.

Bei den Schweizer Genossen, die das im März 2013 aus dem Italienischen übersetzt haben sollen, fehlt zweimal eine sinnverändernde Wortgruppe, falls es sie interessiert — aber es kommt drauf an, ob von dem Text auf dem Plakat oder dem Text online als maßgeblich ausgegangen wird. Ich sag’s bloß. Venceremos.

Plakat Kafe Marat, La Rivolta, Aufruhr, Ich, 1910, März 2013

La Rivolta, anarchistische Zeitung:

Ich

Pistoia, Italien, 12. Februar 1910,
übersetzt von Aufruhr, Nummer 5, März 2013:

Ich habe einen Verstand, einen Charakter, der mich von meinen Mitmenschen unterscheidet, und ich habe eine Würde, die sich weder verkaufen noch beugen will. Ich habe eine Menge zu verstreuende Energien, zu entwickelnde Gedanken und zu begehende Handlungen. Ich suche nach der Erfüllung von mir selbst, nach der vollständigen Entfaltung meiner Individualität, und in dieser Entfaltung fühle ich mich glücklich. Ich suche nach dem Wohl der anderen oder verachte es, je nachdem, ob ich in ihrem Wohlstand mein Glück oder mein Unglück finde.

Ich will. Ich will materiell frei sein, um sagen und tun zu können, wonach mir ist, ohne dass mir irgendeine Autorität irgendetwas aufzwingt. Ich nehme Kritik oder Ratschläge von anderen an, nachdem ich über sie nachgedacht, sie für gut befunden und verstanden habe; den brutalen Befehl aber verachte ich und weise ich zurück.

Ich spüre in mir selbst die moralische Unmöglichkeit, zu gehorchen. Da ich ein Gehirn habe, das denkt, will ich tun, was ich für richtig halte, und nicht, was meinen Unterdrückern zugutekommt. Ich habe es nicht nötig, dass mich irgendjemand führt und mich beschützt: Man sagt mir, das Individuum könne sich nicht selbst führen, doch wenn ich meine Handlungen nicht regeln kann, dann können noch viel weniger die Regierenden die Handlungen von anderen führen.

Da ich also in der heutigen Gesellschaft nicht frei bin, kämpfe ich mit allen meinen Kräften, um alle Schranken zu zerstören. Ich kämpfe nicht weil ich auf einen weit entfernten Wohlstand hoffe, nicht nur, weil ich Glauben an die Zukunft habe. Ich lebe in der Gegenwart. Selbst wenn ich wüsste, dass ich niemals frei sein werde, würde ich genauso revoltieren, denn ich spüre den Drang gegen jegliche Tyrannei zu revoltieren.

Ich habe keinen Glauben, ich habe keine Dogmen, ich habe keine Sorgen einer Partei oder einer Schule. Ich glaube weder an Gott, noch an das himmlische Paradies oder an das irdische, das die Gesellschaftler vor den Augen anderer wie im Traum aufblitzen lassen.

Ich suche nicht danach, mich mit meinen Mitmenschen für den Ruhm zu vereinigen, einem Verband anzugehören, und unter einem Banner Unterschlupf zu finden. Ich schließe mich zusammen für ein bestimmtes Ziel, und wenn dieses erreicht ist, ergreife ich wieder meine Freiheit.

Ich hasse die konstituierten Formen, weil sie im Widerspruch zum Fortschritt stehen, der beständig alles verändert.

Ich will nicht wissen, es kümmert mich nicht, was die künftige Gesellschaft sein wird. Ich glaube nicht an jene, die im Namen des Volkes, der Menschheit und anderer ungreifbaren und formlosen, kollektiven Körperschaften sprechen, denn man kann das Zusammengesetzte nicht kennen, ohne die einfachen Einzelnen – jeden für jeden – zu kennen – was unmöglich ist. Darum glaube ich nicht an die Abgeordneten, an die Widerstandskomitees, an die Kongresse und alle Parlamentarismen. Nur ich alleine kann mich selbst repräsentieren.

Ich will keine Bestrafungen, ich will keine Gesetzbücher, Formalismen, Stempel und dergleichen. Die moralischen Gefühle drängen sich nicht auf, wenn sie nicht existieren, und wenn sie existieren, ist es nicht nötig sie aufzudrängen. Ich rebelliere gegen die Mode, ich glaube nicht an die Phrasen, an das Recht, an die Moral, an die Justiz. Im übrigen formt sie sich ein jeder für den eigenen Gebrauch und Verzehr.

Ich glaube nur an die Stärke und den Kampf, der das Individuum vorantreibt, nicht, um die Schwachen zu zertrampeln und die Starken zu vergöttern, sondern um sich selbst immer mehr zu erhöhen und zu verbessern. Ich glaube an das Leben, an die Energie. Heute kämpfe ich mit Gewalt, weil ich gegen mich die Gewalt habe; morgen kämpfe ich mit dem Denken, weil ich gegen mich das Denken habe.

Mein Ziel ist es mich zu vervollkommnen; mein Mittel ist der Kampf, mein Verlangen ist die Freiheit.

Mich beschimpfen die Frommen und nennen mich hochmütig, unmoralisch, etc. Ich lache über sie: Für meine Handlungen bin ich nur vor meinem Bewusstsein verantwortlich. Ich bin Atheist, ich bin Rebell, ich bin Anarchist, ich bin frei. Ich bin “Ich”.

Plakat: Kafe Marat München, Thalkirchnerstraße 102,
nach Fernweh. Anarchistische Straßenzeitung, März 2013.

Gedenkens güt’ger Gestank

In Bayreuth müssen sie sich gar nicht mehr eingekriegt haben vor lauter Feiern. Jedenfalls hätte sich genau letzte Woche ein Besuch da oben rentiert, weil man, wenn man denn schon mal hin muss, gleich zwei Sachen mitnehmen konnte:

  1. 150 Jahre “Tristan und isolde”,
  2. die Blüte der Titanwurz.

In Punkt 1, dem “Tristan”, wie wir Wagnerianer, Brahmsianer und Indie-Indianer sagen, geht’s gleich im zweiten Takt, also praktisch ab der ersten Sekunde, los mit dem Tristan-Akkord, der dann die restlichen — für eine Wagner-Oper eher straff gehaltenen — vier Stunden gar nicht mehr aufhört.

Weil man sich bei Richard Wagner über viel beschweren kann, nur nicht über einen Mangel an kuriosen Einfällen, heißt so eine Erscheinung Leitmotiv, und nach den bisherigen 150 Jahren ist noch nicht einmal die Diskussion darüber beendet, in welcher Tonart das Ding überhaupt steht. Und der Organist in den “Buddenbrooks”, er hieß Pfühl, musste nur 25 Takte aus dem Klavierauszug des “Tristan” in einer häuslichen Übungsstunde probeweise anklimpern, um “mit allen Anzeichen des äußersten Ekels” (Thomas Mann, Wagnerianer, a.a.O.) zu urteilen:

Das ist keine Musik … glauben Sie mir doch … ich habe mir immer eingebildet, ein wenig von Musik zu verstehen! Dies ist das Chaos! Dies ist Demagogie, Blasphemie und Wahnwitz! Dies ist ein parfümierter Qualm, in dem es blitzt! Dies ist das Ende aller Moral in der Kunst!

Heutigentags hätte man Herrn Pfühl (der später im Roman sinnloserweise doch noch zum Wagnerianer umschwenkt) derweil zu Punkt 2 in den Ökologisch-Botanischen Garten der Universität Bayreuth schicken sollen, da hätte er ihn erlebt, seinen parfümierten Qualm. Dort hat am 6. Juni zum ersten Mal in den weltweit erhaltenen Aufzeichnungen die Titanwurz, immerhin die größte Blume der Welt, zum zweiten Mal innerhalb zehn Monaten geblüht, leider ausnahmsweise am 6. Juni 2015 a wengla kleiner als am 1. August 2014: heuer nur mit einem Durchmesser von 2,03 Meter.

Weil die Botaniker 1878, als einer von ihnen, er hieß Odoardo Beccari, auf Sumatra so eine Wurz entdeckt hat, so wenig der kuriosen Einfälle ermangelten wie Richard Wagner 13 Jahre vorher, heißt sie wissenschaftlich Amorphophallus titanum, und so riecht sie auch. Der Duft wird von seinen Liebhabern, Befürwortern und Förderern beschrieben, “als sei eine Biotonne mit Fleischabfällen darin in der Sonne geparkt und sehr, sehr lange nicht geleert worden” bis “wie eine tote Maus, die man tagelang nicht findet”. Und das in einem absichtlich schlecht gelüfteten Tropengewächshaus. Wahrscheinlich hat wegen der Titanwurz “Aasgeruch” seine eigene Weiterleitung in Wikipedia (zu “Aas” nämlich).

Ähnlich wie beim Tristan-Akkord innerhalb des “Tristan” ist das kein Manko des sympathischen Aronstabgewächses, sondern muss so sein, um bei der kurzen Blütezeit besonders fiese Insekten anzulocken, die sich nicht zu schade sind, diese Ungurken zu befruchten und, ohne Dank zu erwarten, ihr Fortbestehen zu sichern. Letzten Samstag im Botanischen Garten hat’s allerdings nur für 4500 Besucher gereicht.

Pickelhart, die Bayreuther. Wer bei “Tristan”-Stellen wie “Vergessens güt’ger Trank, dich trink ich sonder Wank!” eineinhalb Jahrhunderte ernst bleiben kann, wird wohl noch zwei Tage lang Titanwurz schnuppern können.

Das Lied vom Kastanienbaum

[Melodie: Nina Hagen: Erfurt & Gera, aus: Street, 1991.]

Da steht im Blumentopf statt Geranien, kaum
gepflanzt, gegossen, schon gesprossen, ein Kastanienbaum
auf dem Fensterbrett in der Küche
und absorbiert Gerüche.

       Und meine Frau Veronika
       spielt leise auf der Mundharmonika
       nach der Leberknödelsuppe lugend
       ihre Lieblingslieder aus der Jugend.

Der Vater von dem Bäumchen stand am Gartenzaun
und dann haben sie ihn letzten Winter umgehaun,
weil die Wurzeln in die Wasserleitung gehn,
und wir wollten nicht deswegen in der Zeitung stehn.

       Und meine Frau Veronika
       spielt rauf und runter ihre Chronika,
       dass wir die Suppe von Pink Floyd bis Nina Hagen schlürfen
       (das wird man heutzutage wohl noch sagen dürfen).

Dass der Papa nicht so einfach für die Katz vergammelt,
hat sie sorgsam die Kastanienkinder aufgesammelt,
eins in den großen Blumentopf, und erst verlor sich’s drin,
daneben kümmern meine Sukkulenten vor sich hin.

       Und meine Frau Veronika
       wechselt von der Dominante auf die Tonika,
       sucht noch für die Brühe Blumenkohl — oh,
       und was für ein brillantes Solo!

[Solo: ungefähr Sonny Terry auf Harmonica and Washboard Breakdown]

Wenn der Blumentopf bald nicht mehr reicht, seh ich,
sind die Kinder und die Enkel überlebensfähig.
Das Problem ist dann der Oma mit dem Haus zu schildern,
um bei ihr im Garten unser Bäumchen auszuwildern.

       Und meine Frau Veronika
       kauft online ein Pfund Antiparkinsonika
       und ich kauf ein paar Schnitzel für den Grill, ja,
       und dann gärtnern wir bei Großmuttern guerilla.

Alle Bilder vom Kastanienbaum sind leider
untersagt, weil I’m a lover, not a fighter.
Photoshop schafft nicht alles, was Schmutz schafft,
aber I’m a poet, not a Putzkraft.

       Und meine Frau Veronika
       spielt leise auf der Mundharmonika
       nach der Leberknödelsuppe lugend
       ihre Lieblingslieder aus der Jugend.

       Und meine Frau Veronika
       spielt Arnold Schönberg auf der Mundharmonika,
       auf die Leberknödelsuppe fluchend
       und neue Lieblingslieder suchend.

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