Moose sind cool. Ernähren sich von praktisch überhaupt nichts — außer ein paar Ausbüchsern wie die fleischfressenden Arten Colura zoophaga (schafft maximal Wimperntierchen) und Pleurozia purpurea (verdaut nicht) —, machen nichts kaputt — nein, nicht mal Ihre Gartenmauer, und wenn doch, war’s eine Flechte —, werden von nichts und niemandem gefressen außer der Zeit, und dass sie tot sind, merkt man erst an der Änderung ihres Aggregatzustands. Manche von ihnen fangen sogar erst danach mit dem Sex an: Die bescheidensten Ackermoose setzen ihre Sporen frei, indem sie verwesen. Schön grün sind sie außerdem; na gut, die meisten. So eine entspannte Bedürfnislosigkeit muss einer erst mal hinkriegen.

Ohne genau hinzuschauen, kann einer glatt darauf verfallen, Moos gäbe es eigentlich gar nicht. Isländisch und Eichenmoos sind Flechten (Cetraria islandica und Evernia prunastri), Spanisches Moos ist sogar eine blühende Ananas (jedenfalls Bromeliacea), das Zeug in den Pflasterritzen sind Kreuzblütler (Sagina) und das an Bäumen und alten Schaufenstern Algen. Ohne einen Trick, mit dem man einfache und doppelte Chromosomensätze nachzählen kann, ist man aufgeschmissen. Im Felde eine Lupe, zu Hause ein Miskroskop und die wichtigsten Reagenzien aus der Apotheke helfen aber schon weiter.

Zu Ehren dieser stillen Gewächse rette ich aus dem Netz ein Gedicht von Siegfried von Vegesack, das auf Fach- und Besinnungsseiten öfter zitiert wird, aber eigentlich immer mit kleinen Fehlerchen gespickt (Versaufteilung, Großschreibung, Zeichensetzung, Sie kennen das ja). Es stammt aus dem Simplicissimus vom 21. Juni 1936; Lyrik im Simplicissimus zeigt es im Faksimile. Also hier als maßgeblich gemeinte Version, penibel abgetippt und korrigiert, wenn Ihnen noch Fehler auffallen, bitte nicht für sich behalten, Sie sind ja kein Moos.

Siegfried von Vegesack, Moos, Simplicissimus, 21. Juni 1936

Siegfried von Vegesack:

Moos

in: Simplicissimus, 21. Juni 1936.

Hast du schon jemals Moos gesehen?
Nicht bloß so im Vorübergehen,
so nebenbei von oben her
so ungefähr —
nein, dicht vor Augen, hingekniet,
wie man sich eine Schrift besieht?
O Wunderschrift! O Zauberzeichen!
Da wächst ein Urwald ohnegleichen
Und wuchert wild und wunderbar
im Tannendunkel Jahr für Jahr,
mit krausen Fransen, spitzen Hütchen,
mit silbernen Trompetentütchen,
mit wirren Zweigen, krummen Stöckchen,
mit Sammethärchen, Blütenglöckchen,
und wächst so klein und ungesehen —
ein Hümpel Moos.
Und riesengroß
die Bäume stehen…

Doch manchmal kommt es wohl auch vor,
daß sich ein Reh hierher verlor,
sich unter diese Zweige bückt,
ins Moos die spitzen Füße drückt,
und daß ein Has’, vom Fuchs gehetzt,
dies Moos mit seinem Blute netzt.
Und schnaufend kriecht vielleicht hier auch
ein sammetweicher Igelbauch,
indes der Ameis’ Karawanen
sich unentwegt durchs Dickicht bahnen.
Ein Wiesel pfeift — ein Sprung und Stoß —
und kalt und groß
gleitet die Schlange durch das Moos.

Wer weiß, was alles hier geschieht,
was nur das Moos im Dunklen sieht:
Gier, Liebesbrunst und Meuchelmord —
kein Wort
verrät das Moos.
Und riesengroß
die Bäume stehen…

Hast du schon jemals Moos gesehen?

Siegfried von Vegesacks Doppelheimat auf dem Blumbergshof, heute lettisch Lohbergi, und in Weißenstein/Niederbayern

Bilder: Lyrik im Simplicissimus. Die Gedichte aller Autoren;
Ansichtskarte Siegfried von Vegesacks Doppelheimat: auf dem Blumbergshof, heute lettisch Lohbergi, und in Weißenstein/Niederbayern auf Kohoutí kříž via Seniorentreff.