Bewirtschaftet von Vroni und Wolf

Monat: Februar 2011

Knacks

Diese Woche hab ich 221,51 Euro versenkt. Wenigstens waren Lieferung und Mehrwertsteuer schon drin. Und weil wir hier in einem dienstlichen Weblog sind, möchte ich betonen: Das war in meiner Freizeit.

Trotzdem eine Summe, die ich lieber in ein Gebirgswochenende mit der Grafik investiert hätte. Mein Fehler; was muss ich auch Bilder von 1,40 Meter Länge auf 1 Meter Breite aufhängen und bestelle für den Wechselrahmen, um zu sparen, nicht mal anständiges Museumsglas (Aufschlag: 350 Euro)? Knacks – Ende von Wochenende.

Auf meine Anfrage, ob sie eine gleichartige Glasplatte nachliefern können, bedankt sich die freundliche Dame für die Kunden-Mails für meine Nachsicht. Bedeutet “Nachsicht”, ich hätte auch behaupten können, sie hätten das Ding schon zerbrochen angeliefert?

Für das Gegenteil gäbe es keine Beweise. In der Servicewüste Deutschland erkennen die Kunden die Oasen nicht, und die Handelskarawane hätte meiner Fata Morgana nicht so nahe kommen müssen, bis sie merkt, dass mein Sandsturm vorgespiegelt war.

Ob als Lieferant oder als Kunde: Wer mit mir Kamel Geschäfte macht, darf sich freuen. Überhaupt wäre Acrylglas weniger zerbrechlich und sogar billiger gewesen. Umgekehrt kann ich das Unternehmen nur empfehlen, das seinerseits einen Glaser in meiner Umgebung empfiehlt, weil eine Glasplatte ohne Rahmenunterlage auf jeden Fall auf dem Transportweg zerschölle.

Die o.a. Grafik meint, ich hätte mir von ihr helfen lassen sollen – wobei sie auch die Gelegenheit ergreift, meinen mangelhaften Umgang mit meinen Fehlern sowie meinen Männlichkeitswahn zu verwünschen und mich eine Memme zu heißen –, dann wäre das nicht passiert. Die Grafik darf das, denn sie ist meine Frau und somit ein unverzichtbares Korrektiv, das mir hilft, aus meinen Fehlern zu lernen. Überdies ist das Nachtlager auf dem knochenharten Sofa der Wirbelsäule zuträglich. Deshalb hat sie natürlich Recht wie immer.

Als andere Lösung hätte sich nach Eintritt der Katastrophe noch angeboten, die bestehenden Fakten den wünschenswerten anzupassen – oder wie sonst soll die Welt die beste aller möglichen sein? Dann wäre es eine Realitätsebene höher nicht passiert, denn die Welt ist mein Wille und meine Vorstellung. Oder jedenfalls die von Herrn Schopenhauer.

Nach meinen Berechnungen hilft jetzt nur noch, wenn ich zum Ausgleich einfach Museumsglas nachbestelle und meine Frau ins Gebirge einlade. Genial, oder? Ich bin so gut, dass es mir schon selber weh tut.

Wer darin den Logikfehler findet, gewinnt eine auf dem Postweg transportable Version des Bildes, das ich aufhängen will. Begründungen und Belege bitte in den Kommentar oder per E-Mail mit Betreff “Knacks”. Und bitte bis Ablauf des 28. Februar 2011, nicht dass wieder einer in drei Jahren über die Suchanfrage “Männlichkeitswahn Memme” daherkommt.

Über die Vergangenheit weiß man wenig, über die Zukunft nichts, und die Gegenwart gibt’s praktisch gar nicht, weil sie nämlich soeben vorbei ist. Das einzige, was sich sagen lässt: Die Realität ist das Schlimmste, was einem passieren kann.

Synästhetische Weltanschauung

Auf dem Globus sieht Kasachstan ungefähr genauso groß aus wie Indien. Kurzer Wiki-Check: Kasachstan zählt 2724900 Quadratkilometer, Indien 3287590. Das macht einen Flächenunterschied von etwas über einer halben Million Quadratkilometer; auch schon egal, wenn Indien in der Schule nie als Land, sondern gleich als Subkontinent vorgekommen ist und Kasachstan als Wüste für Atomversuche. So groß wie Indien. Das muss sich einer erst mal geben.

Haben Sie das mal durchverglichen? Länder haben Farben. Indien ist in der Vorstellung des Abendländers immer rot, was einmal Russland war, eine überwältigend große grüne Decke um fast die ganze Nordhalbkugel. Die GUS existiert bis heute nicht, aber man rechnet ja auch noch mit “Jugoslawien” und stellt sich durch Deutschland immer noch so einen dicken Strich vor, hinter dem die Zone anfängt. Das muss das sein, was etwas unappetitlich “Mauer in den Köpfen” heißt.

Daran hat der Nerd die Bedeutung von Synästhesie gelernt: Die Schweiz ist mit einer großen Übereinstimmung in der Bevölkerung (ich beziehe mich da auf eine lange Reihe populärrepräsentativer One-Case-Studies) gelb. Genau wie Kanada. Österreich ist rot, aber heller als Indien. Argentinien ist blau, aber heller als Deutschland.

Nach jahrelang anhaltender Verblüffung über die Sicherheit, mit der die Leute die Farbe von Ländern angeben konnte, kam ich drauf: Das kommt von den Farben auf dem politisch eingefärbten Globus, den wir als Kind hatten. Meiner stammte aus dem Yps-Heft 54 vom 18. Oktober 1976 und war das Gimmick namens “Der ungewöhnlichste Globus der Welt”, ein Deltoidikositetraeder, den mein Vater zusammenkleben musste.

Daher kommt es auch, das ausgerechnet Irland bei niemandem grün ist. Grün ist vielmehr Ägypten.

Der Deufl bleibt da, München Neuhausen

Der Deufl bleibt da: München, Neuhausen.

PS: Leider muss ich aus juristischen Gründen an dieser Stelle vermerken, dass das Bildmaterial meinem eigenen Copyright unterliegt, weil ich keine 8000 Euro zuviel hab. Die Bilder sind zur Gaudi auf meinem Flickr-Account, die schenk ich Ihnen.

Barfußläufte

Update zu Andante:

Ob man dazu Mariä Lichtmess, Darstellung des Herrn, Purificatio Mariae, Imbolg, Samhain oder Groundhog Day sagt, läuft aufs gleiche hinaus: Der letzte Tag der liturgischen Weihnachtszeit ist der erste offizielle Frühlingsbote. Mit einfachen Mitteln wie einem Blick aus dem Fenster kann ab sofort Christ und Heid’ feststellen, dass die Tage sichtbar länger als die Nächte geworden sind. Nun muss sich alles, alles wenden.

Zum Beispiel die zwei Mädchen, die zehn Schritt vor mir den Bürgersteig nutzen. Zusammen sind sie ungefähr so alt wie ich alleine, dafür zwanzigmal schöner. Sie halten Händchen und begehen den Frühling. Unter ihren leichten Übergangsparkas weisen kniekurze Hängekleidchen unübersehbar auf ihr Schuhwerk: Beide Mädchen tragen Flip-Flops. Anfang Februar.

Flip. Flop. Flip. Flop. Flip. Flop. Flip. Flop, macht es, jeweils zweistimmig, kurz versetzt. Es ist ein Ritual, die machen das bestimmt jedes Jahr, vielleicht für Mariä Lichtmess, Imbolg, Samhain oder Groundhog Day. Vorne zeigt die Fußgängerampel Rot: Flip. Flop. Flip. Flop. Flip.

Ich schließe auf: Beide haben sich die Zehennägel frisch lackiert, abwechselnd zweifarbig, mädchenrosa und ein frisches Frühlingsblau, die linke große Zehe rosa, die rechte blau, danach absteigend. Dahinter ziehen sich vier Paar dunkelgrüne Flip-Flop-Riemchen wie Rallyestreifen über die vier winterblassen Jungmädchenfüße. Wenn sie nebeneinanderstehen, ergibt das eine Farbenreihe, die tatsächlich nach sprießenden Frühlingsblumen aussieht auf dem Pflastergrau, von dem die Schneematschreste endlich weichen sollen. Sie zeigen ihre aufgemöbelten Zehen stolz der Welt vor. Es hat etwas Siegessicheres.

Meine erste Freundin, fällt mir ein, hatte winzige, rundliche Füßchen. Damit bohrte sie beim Spielen im Sandkasten herum, bis sie wie paniert aussahen.

Drei Jahrzehnte später tat ich auf dem Grundschulklassentreffen so, als ob ich sie nicht erkannte. Nach Mitternacht fand sie heraus, wer ich war, und konnte mir fast ausreden, dass meine Eltern nur aus der Stadt gezogen waren, weil sie mich dauernd mit dem Bagger verdroschen hatte. Sie raubte mir einen Kuss. Er schmeckte nach dem Tod, der in der Bittermandel lauert. Ich hatte noch ihre panierten Kinderfüßchen vor Augen, auf denen sie Plastikwerkzeug für den Bau ihrer monumentalen Sandburgen um sich herum sortierte. Diese Nacht trug sie spitzige Peeptoes. Manche verstehen es nie. Sie bestellte noch Bittermandellikör.

Meine zweite Freundin musste von ihren Eltern beständig ermahnt werden, hier nicht dauernd barfuß rumzurennen, weil sie sich’s sonst auf der Blase holt. Allein in den fünf Minuten, die ich im Korridor auf sie wartete, ließ sie zweimal ihr genervtes “Nänänänänä” vernehmen, mit dem sie alle Anweisungen ihrer Eltern zu kontern pflegte.

Zwei Sommer später traf ich sie mit zwei Punks, einem Schäferhund und mehreren Flaschen Bier vor der Lorenzkirche lümmelnd und konnte schließen, dass sie Barfußgehen immer noch als eine Ausdrucksform innerer Rebellion begriff. Damals gab es gegenüber der Lorenzkirche noch den großen Schuhladen.

Die Haare, Kleider und Zehenschildchen meiner driitten Freundin waren nicht einfach schwarz. Die Haare, Kleider und Zehenschildchen meiner dritten Freundin waren vor Menschenaltern in einen Zustand des Lichts eingetreten, der sich beim Hinschauen anfühlte wie ein Loch in der Nacht und beim Drandenken im Hinterkopf dröhnte. Dafür ersparte der Schneewittchenschimmer ihrer Haut nachts das Leselicht.

Von ihr erfuhr ich, dass meine zweite Freundin gar nicht so unordentlich gewesen war, weil schwarzer Nagellack praktisch sofort nach dem Trocknen anfängt abzublättern, und dass dieser Effekt teilweise sogar erwünscht ist. So viel verstand ich zur Not. Das runenartige Gekrakel, das sie sich mit einem eigens für diesen Zweck angeschafften Skalpell aus dem Ärztebedarf in beide Unterarme, Waden und Fußrücken ritzte, überforderte mich.

Meine vierte Freundin zog sich immer weiße Socken mit dünnen roten Ringeln in die Sandalen. Im Freibad kam sie immer im Bikini, aber noch in Socken und Sandalen aus der Umkleidekabine, um unseren Platz auf der Wiese zu suchen. Wegen der Fußpilzgefahr, wie sie angab.

Auf der ausgebreiteten Decke streifte sie ihre Socken mit verschämten Blicken und einer besonderen Feierlichkeit ab, schlang ohne Versäumnis, doch mit geübtem Schwung ihre entblößten Fersen als Sitzgelegenheit unter sich und kramte nach einem Buch, aus dem sie mir kniend vorlas. Einmal war es der ganze Shakespeare in einem Band. Gegen ihren Widerstand fand ich heraus, dass ihre zweiten Zehen genauso lang waren wie ihre großen Zehen. Ich fand, das sah irgendwie erwachsen aus, sie fand es hässlich. Sie war noch nicht in ihre Füße hineingewachsen.

Danach bekam ich eine Brille und achtete in der Folge sehr viel mehr auf Mädchen. Allerdings bekam ich nur noch Freundinnen, die ebenfalls Brille trugen. Das hat den Vorteil, dass zwei Brillen stark beim Küssen stören. Wenn man über vier Brillengläser voller Nasentapser nicht lachen kann, hält die Beziehung keine zehn Minuten. So kam ich immer mit jungen Damen zusammen, denen das Lachen locker saß. Und das, lassen Sie sich gesagt sein, ist ein Aspekt, der einem Kerl, der sehenden Auges der Philosophischen Fakultät zustrebt, das Leben noch sehr erleichtern wird.

Meine fünfte Freundin machte sich geradezu einen Sport daraus. Ich bockte sie auf einen Sandsteinsockel unter der Nürnberger Burg auf und ließ sie stundenlang meine Brille blindküssen. Leider endete ihr Körpergefühl unterhalb des Kruzifixes an ihrer Halskette. Bis heute glaube ich fest, dass sie die Worte “barfuß” und “Zehen” nicht aussprechen konnte; ein verbreiteter Sprachfehler. Es hielt nicht lange.

Meine sechste Freundin war eine reine Brieffreundschaft. Sie besaß ein Buch über das Zehenlesen und schickte mir deshalb immerzu filmeweise Fotografien von ihren Füßen in allen Perspektiven und Lebenslagen, die charaktervollsten auf 13×18, drei gar nicht mal so schlecht ausgeleuchtete auf 30×45.

Zehenleserei, lernte ich, ist so seriös und so hanebüchen wie Handlesen oder Astrologie auch, funktioniert mit einem Minimum an Menschenkenntnis einwandfrei anhand von Bildern und ist unschlagbar, wenn man mal auf einer Hochzeitsfeier mit lauter Fremden von horoskopgläubigen, aber wenigstens barfüßigen Frauen umringt sein will (das war ein Tipp, Jungs!).

Als wir zum ersten Mal telefonierten, um uns auf halbem Reiseweg in einer verschwiegenen Pension zu verabreden, war sie über meinen fränkischen Zungenschlag mindestens so erschrocken wie ich über ihren sächsischen. Ich fand es sinnig, den Stapel mit ihren knubbelzehigen Selbstportraits in einem Schuhkarton zu horten. Er wurde voll und wog ungefähr fünf einbändige Shakespeares. Beim nächsten Umzug setzte ich ihn in der Stadtbücherei aus. Zweifellos benutzt ihn heute halb Nürnberg als Lesezeichen.

Ab meiner siebten Freundin war nicht länger zu verhindern, dass es ernsthaft ans Sexuelle ging. Außer über einen karottenroten Wuschelschopf verfügte sie über große, fröhliche Flitschflatschfüße mit den ausdrucksvollsten Zehen der Welt. Damit konnte sie so vergnügte und so verdrossene Mienen schneiden wie mit den Augenbrauen. Ausdauernd und taktfest konnte sie damit zur Musik schnipsen und Bücher umblättern. Dünndruckpapier! Auf meine Frage, ob sie damit auch Flieger falten und Zigaretten drehen konnte, musste sie ungelogen erst nachdenken.

Nie kapiert hab ich, woher sie stammte. Sie legte offenkundig auch keinen Wert darauf, es muss aber westlich der Sonne und östlich vom Mond gewesen sein, irgendwo nördlich von Hamburg jedenfalls, aus dem Skandinavischen, in der Gegend von Thule. Sie stellte es als eine Art Elfenreich dar. Deshalb hatte sie sich etliche deutsche Lieblingswörter zugelegt, verwendete etwa die Wörter “barfuß” und “meine Zehen” auffallend gerne, wobei sie mit den Lippen den Verlauf der Vokale besonders sorgfältig formte. Meist hob sie dazu andeutungsweise einen Fuß, um an der wirklichen Entsprechung vorzuweisen, wovon sie sprach.

“Ich kann dir doch nicht gleichzeitig in die Augen und auf die Füße schauen”, bedauerte ich.

Language!”

“Auf deine Zeeehen.”

“Na bitte, du kannst es ja. Auf mich musst du besser aufpassen, ich bin für die ganze Welt baaarfuuuß.” Mit betont offenem a, auf das sie ein entgegengesetzt dunkles u folgen ließ. Dann kumpelte sie mich auf die Schulter und lachte sich kaputt.

In der Kneipe nahm sie gern die Bank unter den Fenstern in Anspruch, wo sie ihre Beine zikadenartig um sich herum verteilte. Das war Teil ihrer Körpersprache. Die Bedienungen unseres Vertrauens wussten davon und duldeten es nachsichtig, die besten unter ihnen sogar ein bisschen neidisch.

Eines Abends versuchte sie dort, weil sie eben günstig saß, nacheinander mit beiden Füßen, den Satz A girl without freckles is like a night without stars in ihre A4-Chinakladde zu schreiben. Daran scheiterte sie nur, weil ihre Füllfeder nach einigem ruppigen Gehüpfe auf dem Wege hierher kleckste. Seitdem erzählte sie überall herum, sie sei linkshändig, aber rechtsfüßig.

Allein deswegen missriet ihr die beidfüßige Tätigkeit des Zigarettendrehens. Weil sie sich das nicht bieten ließ, fing sie unter dem Tisch an, sich umständlich aus den allzu engen, ihren Beinradius einschränkenden Jeans zu winden. Überraschend wirkte sie in burschikosen Boxershorts und einem Träger-Top, das ihr rothaartypisches Augengrün wiederholte, viel selbstverständlicher angezogen als zuvor. So gelang ihr immerhin mit entspannter Grandezza, mit den Zehen die fertige Zigarette zu rauchen.

Den Satz mit den girls ohne freckles schrieb sie dann in englisch-humanistischer Kalligraphie mit der Hand. Mit der linken, den rechten Fuß mit der Zigarette versonnen an die Tischkante gestützt.

“Mein Liebchen?”

“Mein Wolf.”

“Kannst du denn auch mit deinen unterseitig so sinnreich und gelenkig angebrachten Rosenzehen aus deinem Bierglas trinken?”

“Nicht doch, mein großer kluger Wolf. Wir wollen der guten Gottesgabe nicht vergeuden und über Tische, Bänke und Chinakladden vergießen, sondern nächste Woche, so Gott will, wieder zur Stelle willkommen sein und bei der flinken Margit des neuen Bieres bestellen, um eines frischen Rausches zu genießen.”

“Genießen statt vergießen.”

“Wie du das immer so schön sagen kannst.”

“Und doch, mein Liebchen, beliebst du zu schummeln.”

“Wobei denn nur, mein Wolf?”

“Zikaden sind weder mehrhändig noch multitasking.”

“Mein großer, kluger, belesener, eloquenter, aufmerksamer und gutaussehender Wolf!”

“Scherze nicht, mein Liebchen. Rothaarig sind sie schon gleich gar nicht.”

“Aber baaaaarfuuuuuß…”, behielt sie Recht. Stillvergnügt kalligraphierte sie vor sich hin, indem sie zuzeiten von der Zigarette zwischen ihren Zehen zog. Mit der rechten Hand abzuaschen hatte sie schnell raus. Die ganze Kneipe einschließlich der Bedienung verliebte sich heillos in sie.

Erst als ich meine Beobachtung, dass sie alle Zehen spreizen konnte außer Nummer zwei und drei links, eher beiläufig, ganz sicher aber absichtslos äußerte, sah ich etwas in ihr einrasten. Umgehend befahl sie mir auszutrinken und schob mich am Hintern bis zu sich ins Schlafzimmer. Hinter uns hörte ich in unserem Gleichschritt den ganzen Weg bis auf den Schlafzimmerteppich ihre großzügig offenen Birkenstocklatschen mit viel Platz für zwei Fünfersätze Zehen erwartungsvoll an ihre Sohlen flatschen. Die Jeans trug ich ihr um den Hals geknotet vorneweg. Sie war mir zwei Lebensjahre voraus, darum geriet meine Entjungferung zur gründlichsten Entjungferung in der Geschichte der Entjungferungen.

Nach einer aufreibenden 18-Stunden-Übung, die sämtliche bekannten Indoor-Disziplinen sowie einige bis dahin unbekannte einschloss, klingelte es. Vor der Wohnungstür stand ein junger Mann aufgebaut, der sich zurechtgelegt hatte:

“Ey, Alder. Das geht nicht. Echt nicht.”

Da hörte ich hinter mir die Freundin lustig zwitschern: “Hi, Herr Nachbar!”, worauf er etwas wie “Also leiser bitte” nuschelte und im Treppenhaus verschwand.

Als ich mich umdrehte, trug das Liebchen nichts als ein Handtuch um die Brüste geschlungen, das noch über der Taille endete. Sie feixte breit über ihre postkoital kirschroten Wangen und schnitt jubelnde Grimassen mit den Zehen: “Das war leicht”, und zerrte mich mit zwei Fingern im Hosengummi zurück ins Bett, weitertrainieren.

Von ihr bleibt mir die Erinnerung, wie sie mir nach dem Schlussmachen gegenüberstand und aufpasste, dass ihr die Grünaugen nicht überliefen. Sie knöpfte mir die Jacke zu, ruckelte mir die Mütze zurecht und musste nicht, wie die meisten Frauen, auf Zehenspitzen ein Stück an mir hochkrabbeln, sondern konnte mich aus ebenbürtiger Körperhöhe ein letztes Mal auf den Mund schmatzen. Sie trug, wie ich wusste, selbst gestrickte Wollsocken in Schnürschuhen mit Profil.

Meine achte Freundin riss sich einmal auf einer Bergtour unangekündigt die Wanderschuhe von den Füßen, stopfte die Socken hinein, rannte barfuß vor mir her die Kuhweide hinab und ließ sich an den unten plätschernden Gebirgsbach fallen, um sich die müde gequetschten Zehen zu kühlen. Hinterher hatten sie die Farbe zarter Rosenblätter. Barbeinig in reißendem Gebirgswasser umherwatend erzählte ich ihr, dass ein Mädchen auch in Wanderstiefeln barfuß sein kann, nämlich als nicht akut körperlicher, sondern als grundsätzlich geistiger Zustand, in ähnlicher Weise, wie eine Frau über 18 ein Mädchen sein kann, und dass beides nichts Verwerfliches, vielmehr etwas Erstrebenswertes ist, und sie verstand es. Und vor allem verstand sie es als Kompliment. Zu Hause getattete sie mir, ihr die Zehennägel in einem Mitternachtsblau zu lackieren, wie nur große, freigeisternde Mädchen es tragen dürfen.

Wir schaufelten uns zwei weitere Urlaubswochen frei, um einander täglich dreimal beizuschlafen. Den Körperkontakt, den sie mit Lippen, Händen, Brüsten, Scham und Zehenballen auf mir herstellte, verwendete sie als leistungsfähigen Weg der Kommunikation, auf dem ich lernte, wie wesentlich der weibliche Höhepunkt durch ein untergeschobenes Kopfkissen und kreisende Hüftbewegung an Frequenz und Lautstärke zunimmt. Ihre Augenfarbe wechselte mit ihrer Tageslaune zwischen Grau und Blau und bildete damit zuverlässig die Farbe des Himmels über München ab. Die Strümpfe, die ich ihr schenkte, konnte sie nicht tragen, weil ihre Zehen daraus betrübt wie gefangene Bachforellen hervorguckten, worauf man angesichts der korrekten Bezeichnung Fishnets hätte kommen können. “Das mein ich mit barfuß in Wanderstiefeln”, erklärte ich; atemlos beschied sie mir ihr Verständnis durch eine Einheit Beckenbodengymnastik.

Im Gegensatz zu mir besaß sie eine Bohrmaschine, die sie Ladybosch nannte. Sie konnte besser zeichnen als ich. Sie lehnte Brillen ab. Sie konnte sich nie entscheiden, ob im Wort “barfuß” das r als eigener Laut mitgesprochen oder nur als Länge im a erscheinen soll, jedoch reichte ihr phonetisches Problembewusstsein aus, um es mir gegenüber zu thematisieren. Ich heiratete sie.

Flip. Flop. Flip. Flop, machen die zwei Mädchen wieder, mit bunt in die Welt blinzelnden Zehen, Hand in Hand, versonnen, stolz und siegessicher: Die Ampel hat auf Grün geschaltet. Logisch, ist ja jetzt Frühling.

“Schaun’S es Eahna oo, de zwoa junga Ganserl”, plaudert mich von der Seite eine Frau im rentnerbeigen Anorak an, mit rechtschaffenem Kopfschütteln, kriegt aber den richtigen Münchner missbilligenden Grantelton nicht hin: “De hoin si’s doch auf da Blosn, de zwoa.”

Schade, dass ich schon abbiegen muss, weil ich ein Meeting mit meiner achten Freundin am Küchentisch hab, sonst wäre ich möglicherweise schlagfertiger als: “Ja mei, gell, Lichtmess halt.”

Soundtrack: Ray Collins’ Hot-Club: Barefoot, aus: Teenage Dance Party/Tohuwabohu, 2006 [sic!], bekannt von Til Schweiger, 2005.

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